Kapitel 21

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Gilles Sicht

Tatsächlich traute Sam sich heute Abend dann doch wieder zur mir. Zögerlich stellte er mein Abendessen ab und sah mich einen Moment unschlüssig an. „Wenn du nicht endlich den Mund aufmachen willst, kannst du direkt wieder gehen", fuhr ich ihn an. „Ich hätte es nicht tun sollen", murmelte er leise. Ich richtete mich schnell auf, um ihn besser zu verstehen. ,,Was hast du gesagt?" „Ich habe keine Ahnung, was das sollte. Kommt nicht wieder vor, Ende der Sache", brummte er.

„Und es war jetzt so schwer, das zu sagen, dass du dich die ganzen letzten Tage gar nicht getraut hast, irgendetwas zu sagen?" Eigentlich wollte ich etwas vollkommen anderes sagen. Ich wollte ihn fragen, wie bitte ich diesen Kuss verdrängen sollte. Doch das tat ich nicht. Es wäre deutlich besser für uns, wenn wir das wirklich einfach nur überspielten. „Ach, halt doch einfach die Klappe", motze er wieder in seinem altgewohnten Ton herum.

Er wollte sich schon wieder umdrehen, als ich ihn erneut ansprach: ,,Und, was hast du heute so interessantes unternommen, dass du keine Zeit für mich hattes? Oder bist du mir einfach nur aus dem Weg gegangen?" Einen Moment zögerte er. Es sah aus, als wollte er einfach wieder gehen. Doch dann drehte er sich zu mir und setzte sich wieder auf den Tisch. Eigentlich waren wir ja schon so weit gewesen, dass er mit auf meinem Bett saß, aber ich schätze, keine zehn Pferde würden ihn je wieder so nah an mich bringen.

„Hab mich mit 'nem Kumpel getroffen." „Hält der auch Geisel in seinem Keller gefangen?" Ein kurzer amüsierter Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht. „Wer sagt, dass wir hier in meinem Keller sind? Aber nein, er hat mir seinen Freund vorgestellt." Ungläubig zog ich die Augenbrauen zusammen. Das hatte ich nun nicht erwartet. „Du hast Freunde, die queer sind? Hätte dich eher so als das typische homophobe Arschloch eingestuft." Er sagte dazu nichts, aber seine anklagend hochgezogenen Augenbrauen sprachen Bände.

„Also wenn du möchtest, kann ich dir gerne von meinem super spannenden Tag berichten", sagte ich sarkastisch. „Aber eine gute Sache gab es, ich mache Fortschritte bei Biggie. Er hat ganz kurz gegrinst, als ich ihm meine Botschaft an dich diktiert habe." Stolz grinste ich ihn an.

Und dann kam da dieser wunderbare Ton. Sein Lachen. Es war sogar noch besser als seine Stimme zu hören. Komm runter Gilles, du klingst wie ein verliebter Idiot. Was du nicht bist. Zumindest bist du nicht verliebt.

„Er hat's mir sogar gesagt. Ich glaube, er findet dich eigentlich ganz in Ordnung, aber im Gegensatz zu mir ist er seiner Aufgabe treu geblieben und ignoriert dich - zumindest größtenteils." „Ich verstehe dich." Verwirrung machte sich auf seinem Gesicht breit. „Häh, was verstehst du?" Mit todernstem Gesicht sprach ich weiter: „Na, dass du es nicht schaffst mich zu ignorieren. Ich meine, wie kann man dem hier", ich grinste charmant und deute auf mich, „auch widerstehen?"
Einen Moment wirkte er ein bisschen aus der Bahn geworfen, doch er fing sich schnell wieder und sah mich belustigt an. „So so...sag mal, wird euch reichen Gören die Arroganz eigentlich in die Wiege gelegt oder bist du einfach nur ein Arschloch?" „Ach Sammy, ich mache doch nur Spaß."

Den Spaß mit seinem Namen fand er allerdings gar nicht lustig. „Pass bloß auf, was du sagst, sonst-" „Sonst was?", unterbrach ich ihn. „Drückst du mich wieder an die Wand?" Herausfordernd sah ich ihn an. Er funkelte mich kurz böse an, bevor er aufsprang und abhaute.

In den nächsten Tagen überkam mich immer wieder die Einsamkeit. Sam und ich redeten, wenn überhaupt, nur ein paar Worte. Ich versuchte mir einzureden, dass ich stark sein musste und nicht die Hoffnung verlieren durfte, doch es wurde immer schwerer, daran zu glauben, dass endlich jemand durch diese beschissene Tür kommen würde, um mich zu retten.
Noch dazu kam, dass ich nachts nicht schlafen konnte, weil mich der Kuss in meinen Gedanken gnadenlos verfolgte.

Und so kam es, dass ich an einem regnerischen Morgen Sam niedergeschlagen fragte, was sie machen würden, wenn mein Vater sich nicht endlich dazu entschloss, zu zahlen. Wir hatten vor zwei Tagen noch eines von den Videos gedreht, mit denen Lösegeld gefordert werden sollte, doch nichts hatte sich seitdem verändert. „Du weißt ganz genau, dass ich dir darüber nichts sagen darf."

Daraufhin brach irgendetwas in mir zusammen. Ich wusste nicht wieso ausgerechnet jetzt, er hatte doch nicht mal etwas Schlechtes gesagt, doch ich musste urplötzlich mit den Tränen kämpfen. Ich durfte jetzt auf keinen Fall vor ihm weinen. Zu meinem Pech drehte er sich genau dann zu mir um und schien sofort zu merken, wie es mir ging, weshalb ich ihm sagte, er soll bloß verschwinden.

Einen Augenblick sah es so aus, als würde er es wirklich machen. Doch wann tat er bitte das, was er sollte? Stattdessen setzte er sich jetzt zögerlich neben mich. Er hielt kurz inne, doch dann drückte er meinen Kopf vorsichtig an seine Schulter.

Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass er mich umarmte, allerdings entflossen mir bereits die ersten Tränen und fingen an, sein T-Shirt zu verdunkeln. Und scheiße, wenn man für so lange Zeit isoliert war, würde man sich wahrscheinlich von jedem umarmen lassen
Nun schloss er auch noch seinen anderen Arm um mich und drückte mich fester an sich.
Er sagte die ganze Zeit kein Wort, während ich leise schluchzte. Wäre ich nicht so fertig gewesen, hätte ich mir höchstwahrscheinlich den Kopf darüber zermartert, was nur in ihn gefahren war.

Wir saßen eine ganze Weile bloß so da, bis er das Schweigen brach. Ich hatte meinen Kopf in seiner Halsbeuge vergraben und spürte deshalb ganz deutlich, als er anfing zu sprechen: ,,Hör zu, was ich dir jetzt sage, solltest du eigentlich nicht wissen, weil es dich dazu bringen könnte...gewisse Dinge zu tun." Ich bewegte mich nicht, ich wollte wenigsten noch einen kurzen Moment das Gefühl von Geborgenheit behalten. „Egal was auch passiert, hier wirst du nicht sterben. Mein Vater mag eine Menge schlimmer Dinge tun, aber er würde niemals jemand unschuldigen umbringen. Du brauchst keine Angst vor uns zu haben, denn egal wie lange du auch noch hierbleiben musst, wir würden dich nie ernsthaft verletzten, hörst du?" Ich nickte kaum merklich.
Er nahm meinen Kopf vorsichtig hoch, so dass ich ihm in die Augen sehen konnte. „Ich wünsche mir wirklich, dass sie dich befreien. Und zwar nicht nur für das Geld, sondern für dich."

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now