Kapitel 19

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Gilles Sicht

Seufzend starrte ich die Tür an. Sam war ohne ein Wort gegangen. Ehrlich gesagt, ich hatte auch nichts anderes erwartet. Ich war so durcheinander. Er hatte mich verdammt nochmal geküsst. Und zwar nicht nur einen von diesen 13-Jährige-Flaschendrehen-Kuss, nein, das war so viel intensiver gewesen. Haareraufend lief ich durch den kleinen Raum. Jede einzige Frage in meinem Kopf begann mit einem dicken fetten Wieso? Wieso hatte er mich geküsst? Wieso redete er nicht? Wieso hatte ich erwidert? Und vor allem, wieso hatte es mir gefallen? Scheiße ja, das hatte es.

Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Jungen geküsst hatte, mir war durchaus bewusst, dass ich bi war. Meine erste Erfahrung mit einem Typen war im Urlaub gewesen, Piedro hieß er. Ich hatte keine Lust mehr auf meine Eltern gehabt und war in eine Bar geflüchtet - dass ich zu jung war, hatte niemanden interessiert. Mutterseelen allein hatte ich am Tresen rumgehockt, bis mir jemand ein Bier rüberschob. Als ich rüber sah, saß da ein junger Mann, mit wuscheligem Haar und einem aufgeschlossenen Lächeln. Nach einem langen Gespräch, dass bis spät in die Nacht ging, wusste ich, dass vor mir der Torschützenkönig seiner Liga saß, von einem Verein, dessen Namen ich nie aussprechen konnte. Wir hatten über Gott und die Welt gesprochen, bis wir irgendwann draußen am Strand Spazieren gegangen waren. Wir hatten beide ordentlich was getrunken und irgendwann lagen wir zusammen auf einer dieser schrecklichen Liegen, auf der schon tausende Touristen vor uns lagen. Dort führte eben eins zum anderen.

Nicht einen Gedanken hatte ich daran verschwendet, dass er ein Junge und kein Mädchen war. Aber auch später, als ich nicht mehr betrunken war, machte es mir nichts aus. Trotzdem hatte ich es nie jemandem erzählt. Wieso auch? Das ging niemanden etwas an.
Piedro hatte ich nie wiedergesehen und auch sonst hatte ich nicht mehr wirklich etwas mit einem Jungen gehabt.
Und jetzt küsste Sam mich einfach so aus heiterem Himmel. Also, nicht dass ich ihn nicht attraktiv fand, er sah schon ziemlich gut aus und er konnte auch mal ganz nett sein - aber nein, einfach nein! Ich meine, hallo?! Dieser Typ hatte mich entführt.


Duschen war zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen hier drinnen geworden. Es hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass ich meine Entführer noch mit Wasserkosten zur Last fiel. Außerdem war es nichts, bei dem ich meine Hand anstrengen musste, denn die tat immer noch unheimlich weh, wenn ich sie zu sehr belastete. Und so kam es, dass ich jeden Tag mit meiner morgendlichen Dusche begann, danach bekam ich mein wunderbares Frühstück - natürlich schweigend und ohne jeden Blickkontakt - serviert, bis zum Mittagessen lag ich faul herum oder machte gelegentlich ein Workout, soweit es eben ging. Dann wieder Ignoranz von Sam, Mittag, Workout, Ignoranz von Sam, Abendessen, gelegentliche Abenddusche und Schlafen. Spannend, nicht? Ich war sogar schon so weit, dass ich mir in Gedanken Rechenaufgaben stellte und das sollte ja wohl etwas heißen.

Pünktlich wie immer öffnete sich die Tür. Nun gut, ob es wirklich pünktlich war, konnte ich natürlich nicht sagen, aber mein Bauchgefühl meinte es zumindest. Doch dieses mal war es Biggie, der seinen Körper hineinzwängte.
„Was verschafft mir die Ehre? Ah, lass mich raten, Sam hat endgültig die Lust verloren, mich zu ignorieren und dich hergeschickt." Ich würde meine Hand dafür ins Feuer halten, dass das stimmte.

,,Wärst du so lieb und richtest ihm etwas aus? Auf mich hört er nämlich in letzter Zeit nicht so..." Untertreibung des Jahres. ,,Jedenfalls sollst du ihm sagen, dass jemand sehr schlaues dessen Namen ich leider nicht mehr weiß, mal gesagt hat, Wer glaubt, dass Schweigen Probleme löst, hält sich auch die Augen zu, um unsichtbar zu sein. Da sollte er vielleicht mal drüber nachdenken." Zwinkernd nahm ich mein Essen entgegen und stopfte die Pampe in mich rein. Würg. Angewidert verzog ich das Gesicht. „Werden eure Kochkünste auch irgendwann mal besser? Ich dachte immer, Übung würde den Meister machen...bei euch sieht das wohl nicht so aus, obwohl ich hier doch schon...wie lange sitze?"

Während ich zur Wasserflasche griff, die immer noch in Biggies Pranken steckte, textete ich ihn weiter zu: „Also, ich will mich ja nicht über eure außerordentlich zuvorkommende Gastfreundschaft beklagen, aber mir wird hier drinnen etwas langweilig, besonders seitdem Sam es nicht mal mehr schafft, den Mund zu öffnen. Irgendeine Art von Beschäftigung, die ihr mir geben könntet, wäre mir also sehr willkommen." Triumphierend beobachtete ich, wie ein kurzes Grinsen über sein Gesicht huschte. Irgendwann würde bestimmt auch er noch mit mir reden. „Keine Sorge, ich werde so tun, als hätte ich das gerade nicht gesehen."

Als er weg war, traf mich die Erkenntnis, dass ich eigentlich ziemliches Glück hatte. Ich hatte unzählige Horrorgeschichten von anderen Entführungsopfern gehört, die gefoltert, vergewaltigt oder sogar getötet wurden. Im Gengensatz zu ihnen ging es mir hier drinnen tatsächlich gut. Meine Entführer waren auf das Lösegeld aus und man hatte mir bisher nichts angetan - von Sam abgesehen, aber das zählte ich nicht so ganz mit. Es war schon so viel Zeit vergangen, warum sollten sie jetzt noch damit anfangen, wenn sie es bisher auch nicht taten?

Trotzdem stand aus, ob sie mich umbringen würden, wenn meine Eltern das Lösegeld nicht zahlten. Doch darüber würde ich auf keinen Fall nachdenken. Nein. Ich sollte positiv bleiben und mich wieder darauf fokussieren, dass es mir weitaus besser erging als anderen in meiner Situation. Und ich fokussierte mich darauf, dass meine Eltern einen Haufen Geld hatten, die besten Kontakte besaßen und mich hier sicherlich rausholten.

Fill me with poisonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt