Kapitel 53

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Sams Sicht

„Alles okay, Mann? Ich hab' mir echt Sorgen gemacht, als ich deine Nachricht erhalten habe." Anspannung machte sich in mir breit, als ich Paul in die Wohnung ließ. Shea und Gilles hatten es letztendlich doch noch geschafft, mich dazu zu überreden, dass ich mit Paul sprach. Und genau das hatte ich auch jetzt vor, aber als er nun vor mir stand, schwand mein mühsam aufgebauter Enthusiasmus dahin. „Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen. Lass uns in mein Zimmer gehen."

Er folgte mir und setzte sich dann auf meine Bettkante. Ich blieb lieber stehen, zum Sitzen war ich ohnehin zu nervös. Meine Gedanken schweiften ein paar Tage zurück, als ich schon einmal genau hier stand und ein heikles Gespräch mit jemand anderem geführt hatte. Hoffentlich ging es dieses Mal genauso gut aus.

„Jetzt spann mich nicht so auf die Folter! Warum sollte ich denn nun kommen?", drängte er mich. Also gut. „Ich wollte mit dir darüber reden, warum ich im Gefängnis war." Überraschung zeichnete sich auf Pauls Gesicht ab und ein einfaches „Oh" entwich ihm.

„Erstmal bin ich dir sehr dankbar dafür, dass du mich nie dazu gedrängt hast, darüber zu sprechen. Ehrlich, danke. Das hat mir eine Menge bedeutet. Aber ich möchte das jetzt nicht länger vor dir verheimlichen." Nervös zupfte ich an meinem Hoodie, der so ganz nebenbei bemerkt eine sehr schlechte Wahl gewesen war, da ich so nur noch mehr schwitzte.

„Hey, du musst mir das echt nicht erzählen, wenn du das nicht willst", wollte er mich zurückhalten, aber ich schüttelte energisch den Kopf; das hier musste gesagt werden. „Nein, Paul, ich muss. Denn es geht hier nicht nur einfach um Diebstahl oder ähnliches." Ich atmete noch einmal tief ein. „Ich habe meinen Vater dabei unterstützt, einen Menschen zu entführen." Umgehend schossen Pauls Augenbrauen in die Höhe, damit hatte er wohl nicht gerechnet.

„Es...ich...Natürlich bereue ich es. Ich habe mich damals selbst gestellt und ich habe meinen Vater verpfiffen. Es war das einzig richtige, auch wenn er jetzt nie wieder mit mir spricht - was ich auch gar nicht will, ich möchte nie wieder was mit ihm zu tun haben. Mittlerweile weiß ich auch gar nicht mehr, was ich mir damals dabei gedacht habe. Ich habe halt einfach mitgemacht, bei seinem Plan." Zittrig fuhr ich mir durch die Haare. Mit all den Schuldgefühlen konfrontiert zu werden, war nicht leicht. Aber das sollte es schließlich auch nicht, es sollte sich nur richtig anfühlen.

„Scheiße, Sam", entfuhr es Paul, nach dem er einen Moment lang schockiert geschwiegen hatte, „das ist ein bisschen krasser als das, was ich erwartet hatte! Wie lange ging die Entführung?" „Einige Monate." Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Monate...willst du mich verarschen? Und ich bin noch so doof und besorge dir eine Bleibe bei meiner Cousine! Hätte ich das gewusst, hätte ich ihr das doch niemals zugemutet!" Ich hatte es erwartet, dass er nicht begeistert reagieren würde, aber es jetzt auch wirklich zu erleben, war wirklich kein schönes Gefühl.

„Shea weiß Bescheid, darüber musst du dir keine Gedanken machen." „Oh wie schön, na dann ist natürlich alles in Ordnung! Nett, dass du es ihr erzählst, aber nicht deinem besten Freund." Okay, jetzt musste ich die nächste Bombe platzen lassen, viel schlimmer konnte es nun auch nicht mehr kommen. „Nun, es war fast unumgänglich, dass sie etwas mitbekommt, als Gilles hier mit gewohnt hat. Denn er war es, den wir damals entführt hatten."

Jetzt war Paul vollends sprachlos. Eine Reihe von Emotionen huschte über sein Gesicht, während er fassungslos blinzelte. Als er schließlich sprach, presste er sich seine Finger an die Augen und klang betont gefasst: „Du willst mir also sagen, dass du ihn nicht nur entführt, sondern auch noch belästigt hast? Und dann zw-" „Nein, so ist das nicht! Alles, was wir jemals getan haben, geschah in gegenseitigem Einvernehmen. Das kannst du mir glauben und das kannst du ihn auch fragen."

Noch immer stand das blanke Entsetzen in seinem Gesicht geschrieben und es tat so weh. Gleichzeitig würde ich ihn niemals aufhalten, wenn er jetzt beschloss, das Gespräch zu beenden und nie mehr mit mir zu reden. Das hier war keine kleine Sache und ich würde mit den Konsequenzen umgehen müssen.

Ein freudloses Lachen entrang ihm. „Als du mir damals von diesem Typen erzählt hast, mit dem du aus irgendeinem Grund nicht zusammen sein konntest...da habe ich an homophobe Eltern, irgendetwas Religiöses oder - ja scheiße meinetwegen auch, dass der Kerl bereits verheiratet ist, gedacht, aber doch nicht so etwas!" Er schüttelte den Kopf. „Und dann wohnt er auch noch freiwillig wieder bei dir...Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Hast du ihm das Gehirn gewaschen?" Immer wieder schüttelte er den Kopf. „Versteh das jetzt nicht falsch, aber warum um alles in der Welt sollte er etwas mit dir zu tun habe wollen?"

„Glaub mir, diese Frage stelle ich mir jeden verdammten Tag, aber es ist so. Er hat mich geliebt. Damals. Und ich habe jeden Tag damit verbracht, mich zu fragen, womit ich das verdient habe. Ich war scheiße zu ihm. Ich habe versucht, ihn von mir wegzustoßen. Aber das war ihm egal. So jemanden wie ihn habe ich noch nie getroffen. Ich habe ihn auch geliebt. Das meine ich ganz ernst. Bei ihm habe ich mich schon immer einfach nur...wohl gefühlt. Als könnte ich sein, wer ich bin, ohne dafür verurteilt zu werden. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Und ich...ich liebe ihn noch immer." Erst beim Sprechen wurde mir klar, dass das, was ich sagte, die Wahrheit war. Ich liebte Gilles. Und zwar schon immer, daran hatte sich nie etwas geändert und es würde sich auch nie etwas daran ändern.

Über meine Verblüffung hätte ich beinahe vergessen, dass Paul noch bei mir war. „Sam, das ist...Das ist ganz schön viel. Ich denke, ich werde etwas Zeit brauchen, um das verarbeiten zu können." Sein Blick fand meinen. „Du bist mein Freund - mein bester Freund - und ich möchte dich unterstützen. Aber das hier ist keine kleine Sache. Gib mir etwas Zeit, um darüber nachzudenken, dann reden wir weiter. Und ich würde gerne Gilles Seite der Geschichte hören." Gilles hatte mir bereits versichert, dass er gerne vor Paul alles erklären würde, um es ihm verständlicher zu machen, weswegen ich nickte. „Natürlich, das verstehe ich. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst."

Kurz darauf brachte ich ihn zur Tür. Unsere Verabschiedung fiel kühl aus, aber das war immer hin viel besser, als das Szenario, das ich mir in meinem Kopf ausgemalt hatte, bei dem er wutentbrannt hinausstürmte. Alles in Allem würde ich das Gespräch also als Erfolg verbuchen.

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now