Kapitel 36

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Gilles Sicht

Alles, was passierte, schwebte an mir vorbei.

An das meiste konnte ich mich später nicht erinnern. Ich wusste noch, wie dankbar ich Margie war, dass sie mir keine einzige Frage stellte. Nicht einmal zu ihm. Und ich erinnerte mich, wie, direkt nachdem er verschwunden war, meine Eltern nach Hause kamen. Der Schrei meiner Mutter, als sie mich sah und mich so lange umarmte, bis ich glaubte, dass wir beide keine Tränen mehr überhatten. Die ersten Tränen, die ich meinen Vater jemals vergießen sah. Und die vielen Polizisten und Polizistinnen, deren Fragen ich allesamt unbeantwortet lies.

Es war schon etwas komisch. Kaum das ich aus diesem Raum herauskam, in dem es immer zu still war und ich nie wusste, was ich tun sollte, sehnte ich mich nach Ruhe und Zeit allein. Doch in den ersten Tagen, die ich wieder zu Hause war, bekam ich nichts von beidem. Meine Mutter ließ mich nicht einmal beim Schlafen allein und auch, wenn ich so froh war, sie wiederzuhaben, wünschte ich, sie würde mich in Ruhe lassen.

,,Gilles." Ich hasste die leise Stimme meiner Psychologin, die immer zu versuchte, an mich heranzukommen. Eigentlich war sie ganz nett. Sie hieß Pam und gab sich wirklich Mühe - viel mehr als die anderen - so unauffällig wie möglich auf Fragen zu meiner Entführung hinzuarbeiten. Sie alle dachten wohl, ich hätte mein Denkvermögen verloren und wüsste nicht, dass sie nach Antworten suchten, die ihnen halfen, die Täter zu überführen.

Ich war jetzt seit einer Woche wieder zuhause und jeden Tag um Punkt 14 Uhr hatte sie auf der Matte gestanden. Und jeden Tag hatte ich sie für eine ganze Stunde angeschwiegen.

„Wie wäre es-" Okay, ich hatte jetzt wirklich genug, ich wollte das nicht noch länger aushalten. „Pam, bitte, das führt doch zu nichts. Ich danke Ihnen sehr für ihre Geduld und ihre Mühe, aber ich habe keinen Bedarf daran, mit Ihnen zu sprechen."

Triumphierend beobachtete ich, wie ein kurzer Ausdruck der Überraschung über ihr Gesicht huschte. Tja, damit hattest du wohl nicht gerechnet, Pam. Aber sie hatte sich schnell wieder gefangen. „Es freut mich, dass du endlich mit mir sprichst. Das ist ein erster großer Schritt in die richtige Richtung." Hatte sie mir gerade nicht zugehört? „Magst du mir vielleicht auch verraten, welche Gefühle du spürst, wenn du in dich hineinhorchst? Das muss auch gar nichts mit deiner Entführung zu tun haben." Mit einem frustrierten Seufzer ließ ich mich in die Kissen des Sofas, auf dem ich klischeehafterweise saß, fallen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

„Hey." Erschrocken fuhr ich hoch. Kenneth stand in der Tür zu meinem Zimmer. Verblüfft starrte ich ihn an. Fast drei Monate hatte ich ihn nun nicht gesehen, zuletzt auf seiner Geburtstagsparty. Es fühlte sich an, als wäre das Jahre her gewesen. „Lass mich raten, meine Psychologin hielt es für eine gute Idee, dass du mit mir sprichst? Oder haben meine Eltern dich darauf angesetzt, etwas aus mir herauszuquetschen? Oder beide?" Er grinste. „Deine Mutter hat mich gefragt, ob ich nicht mal schauen könnte, ob du mir vielleicht etwas verrätst." War klar.

„Jetzt komm schon rein", wies ich ihn an und stand auf, um ihn in eine Umarmung zu ziehen. Es schien, als wollte er mich gar nicht mehr loslassen, so fest drückte er mich - die Sorte von Umarmungen, die ich nur noch bekam, seit ich wieder da war. „Ich habe dich vermisst, G. Und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wir alle haben das. Tut mir leid, dass ich nicht früher vorbeigekommen bin, ich wusste nicht, ob du das schon willst." „Ich habe dich auch vermisst", murmelte ich, als ich mich wieder von ihm löste.

Wir setzten uns beide auf mein Bett. „Ich habe übrigens nicht vor, für deine Mutter zu spionieren. Wenn du mit mir reden möchtest, bleibt das unter uns." „Das weiß ich zu schätzen, aber trotzdem möchte ich nicht über die Entführung sprechen. Und tu mir ein Gefallen, bitte fass mich nicht auch mit solchen Samthandschuhen an, wie alle anderen. Mir geht es gut, ich bin immer noch ganz der Alte." Ich brauchte wenigstens eine Person, mit der ich ganz normal reden konnte. „Das merk ich schon." In seinem Ton schwang eine leichte Irritation mit, die ich einfach ignorierte. „Erzähl mir lieber mal, was ich hier alles verpasst habe. Es ist doch sicher so einiges passiert!"

Meine Mutter war so sehr aus dem Häuschen über die Tatsache, dass ich mich eine ganze Stunde lang mit Kenneth unterhalten hatte, dass sie nun anordnete, er sollte jetzt jeden Tag vorbeikommen, weil mir das gut tun würde. Aber erstmal immer nur für eine Stunde, nicht, dass mich so viele soziale Kontakte verwirrten.

Von Tag zu Tag wurde ich gereizter. Jede meiner Bewegungen wurde überwacht. Pam tauchte weiterhin täglich auf und um mit meinem besten Freund zu reden, hatte ich ebenfalls einen Termin. Und dann war da noch die Tatsache, dass ich ununterbrochen an Sam denken musste. Ich machte mir solche Sorgen darum, wie es ihm ging und ich vermisste ihn schrecklich. Und ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, dass er mir seine Liebe gestanden hat. Fast fühlte es sich so an, als hätte ich es mir ausgedacht, so etwas tat Sam doch nicht wirklich.

Irgendwann gipfelte meine Gereiztheit darin, dass ich Kenneth anschrie, er sollte die Klappe halten, nur weil er mich fragte, wie es mir ging. Statt mich anzupampen, was das sollte, setzte er nur einen mitleidigen Gesichtsausdruck auf, was alles fast noch schlimmer machte.

„Sorry. Es ist nur...die letzten zwei Wochen waren schlimmer als die Monate davor." Frustriert rieb ich mir übers Gesicht. „Du...du meinst das echt ernst. Deine Entführung war echt nicht schlimm für dich, oder?" Er wirkte ehrlich überrascht. Ich verstand ja, dass das schwer zu glauben war, aber das hatte ich doch nun allen schon mehrmals gesagt. „Nein, war sie nicht." „Warum?" Er klang nicht neugierig, sondern eher so, als könnte er es wirklich nicht verstehen und suchte nach einer plausiblen Erklärung. Aber die konnte ich ihm auf keinen Fall liefern, sonst würde es viel zu gefährlich werden für Sam.

Oder? Ich müsste seinen Namen ja nicht erwähnen. Und das war schließlich Kenneth, der seit einer Ewigkeit mein bester Freund war, wenn ich ihm sagte, er sollte es für sich behalten, dann würde er es doch auch tun, oder nicht?

„Also gut. Aber du musst mir versprechen, dass du das wirklich niemandem erzählst, ja?" „Versprochen", erwiderte er sofort. Ich warf ihm noch einen letzten prüfenden Blick zu, ehe ich anfing, ihm von Sam zu erzählen. Sobald ich einmal angefangen hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören. Überraschenderweise hatte Pam recht, es tat wirklich gut, darüber zu reden.

Als ich fertig war, starrte Kenneth mich fassungslos an. „Gilles, das...wow. Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet." Ich zuckte mit den Schultern.

Dann verzog er sein Gesicht zu einer mitleidigen Miene und mir war schon vorher klar, was jetzt folgen würde. ,,Hör zu. Ich denke, deine Gefühle für ihn kamen daher, dass du so einsam warst und du dir Gesellschaft gewünscht hast. Das ist ein gängiges Phänomen." Ich ließ ihn nicht weitersprechen: „Kenneth, ich bin nicht dumm. Ich weiß, was das Stockholm-Syndrom ist, und ich weiß, dass es das nicht ist. Meine Gefühle für ihn sind echt, glaub es halt oder nicht." Sein Gesichtsausdruck sagte deutlich, für welche der beiden Optionen er sich entschied.

„Aber dieser...wie heißt er?" Alarmiert zog ich die Augenbrauen hoch, doch er quittierte das nur mit einem Augenrollen. „Ach komm schon Gilles, ich habe dir doch versprochen, nichts zu sagen. Ich halte mein Wort. Oder vertraust du mir etwas nicht?" Widerstrebend nannte ich ihm den Namen. „Okay also Sam wird dich ganz sicher nur ausgenutzt haben, das muss dir doch klar sein."

Ich hätte seine Reaktion voraussehen sollen. Klar dachte er nur das schlechteste, schließlich sah er in Sam nur den Kriminellen. Aber ich hatte einfach gehofft, dass mein bester Freund mich vielleicht verstehen würde. Es zumindest versuchen würde. Wenn nicht er, wer dann?

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now