Kapitel 22

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Sams Sicht

Keiner von uns erwähnte das, was letztens passiert war. Wir schwiegen es tot, genauso wie den Kuss. Ansonsten redeten wir aber meistens noch ein paar Minuten miteinander, genauso wie heute. Gerade erzählte ich ihm, wie Paul und ich das erste Mal etwas geklaut hatten, wobei er mir schmunzelnd zuhörte. Da fiel mir plötzlich etwas einfiel: ,,Oh fuck!" Ich schlug mir gegen die Stirn. ,,Wie geht es eigentlich deiner Hand? Ich habe total vergessen, dir mal wieder Salbe oder so mitzubringen."

Mist, ich hatte schon vor Tagen daran denken wollen, aber er lachte bloß. ,,Ach, halb so wild! Ich trage den Verband schon gar nicht mehr und bewegen geht auch schon wieder fast wie vorher. Süß, dass du dir Sorgen machst", bei den letzten Worten kniff er mir in die Wange, als wäre er eine Oma. Ich quittierte das mit einem Augenrollen. ,,Und schon tut es mir nicht mehr leid, du bist echt-" ,,Unmöglich", beendete er meinen Satz, ,,ich weiß, sagst du öfters." ,,Vielleicht, weil es die Wahrheit ist." Darauf erwiderte er nichts - weil er wusste, dass ich Recht hatte - und für eine Zeit breitete sich ein angenehmes Schweigen aus.

,,Ich denke, ich geh dann mal." Ich erhob mich beim Sprechen, doch er griff nach meinem Arm und hielt mich zurück. ,,Nein", rief er schrill, räusperte sich und sprach dann etwas ruhiger weiter, ,,Bitte, ich...naja es ist so langweilig. Ich habe das Gefühl, ich werde hier noch verrückt." Er sah mich nicht an beim Sprechen, was vermutlich besser war, denn hätte ich in seine Augen gesehen, hätte ich wahrscheinlich Mitleid mit ihm empfunden.

Ich griff mit der Hand, die er nicht festhielt, nach seiner und nahm sie von meinem Arm. ,,Ich komme nachher wieder, das sind vier Stunden bis zum Mittag, dann bin ich wieder hier." Ich wollte bei ihm bleiben, mit ihm zureden war so leicht. Wenn ich bei ihm war, war das die einzige Zeit des Tages, in der ich mich nicht unter Druck gesetzt fühlte und einfach mal ich sein konnte. Aber ich musste gehen.

Ich lief mit der Essenspampe in der Hand zu Gilles. Ich nannte es mittlerweile auch so, denn ich musste Gilles Recht geben, es war echt eklig. Aber keiner von uns konnte wirklich Kochen und das war das billigste Fertiggericht. Ich fragte mich wirklich, wie er noch nicht verhungert sein konnte, mir wurde schon schlecht dabei, es nur anzusehen. Eigentlich war ich etwas zu pünktlich. Das lag daran, dass ich mich den ganzen Vormittag gelangweilt hatte. Leider hatte Gilles nämlich auch damit Recht, dass ich keine Freunde hatte. Bis auf einen, der allerdings schwer beschäftigt mit seinem Freund gewesen war, als ich versucht hatte, ihn anzurufen.

Bevor ich Gilles überhaupt sah, hörte ich ihn. Er rappte wieder. Als die Tür schließlich auf war, bekam ich dazu auch noch seinen nackten Rücken geboten. Fuck, dieser Anblick sollte mir nicht so sehr gefallen. Trotzdem blieb ich noch einen Moment stehen und beobachtete ihn. Er war so versunken in seinen Gesang, dass er mich doch tatsächlich nicht bemerkte.

Als er dann nach einem T-Shirt griff, pfiff ich anerkennend und es fiel ihm vor Schreck wieder aus der Hand. ,,Mein Gott, musst du mich so erschrecken!" Er bückte sich um nach dem Shirt zugreifen. Schmunzelnd setzte ich mich auf sein Bett. ,,Du hast Talent." Er ließ sich neben mich plumpsen. ,,So nett heute? Obwohl, andere Leute belauschen, ist nicht gerade sehr nett." ,,Ich bin eben der Meinung, dass du Talent hast, Gilles. Als wenn dir das vorher noch nie jemand gesagt hat." Überrascht sah er mich an. „Du... du hast mich gerade zum ersten Mal bei meinem Namen genannt." Stirnrunzelnd dachte ich nach. Ich glaube, da hatte er sogar recht. „Gewöhn dich nicht daran, Schnösel."

Noch immer starrte er mich nachdenklich an. Irgendwann wurde mir das zu doof: „Ist was?" „Weißt du", seufzte er, „manchmal frage ich mich, ob das hier ein Traum ist. Es fühlt sich alles so surreal an. Ehrlich gesagt denke ich, dass ist der Grund, warum ich noch nicht verrückt geworden bin. Mein Gehirn denkt immer noch, es besteht die Chance, dass das hier nur ein Albtraum ist."

Jetzt war ich überrascht. Wir redeten viel - wirklich viel - aber das war neu. Ich richtete mich etwas auf und lehnte mich so, dass ich ihn ansah. „Wenn es dir irgendwie hilft, dann solltest du an der Theorie festhalten, dass das hier ein Albtraum ist."
Für mich klang das schwachsinnig. Wie konnte man denn nicht wissen, dass das hier die Realität war? Aber ich war auch nicht derjenige, der seit einer halben Ewigkeit in dieser Zelle festsaß.
Nun sah auch er zu mir. „Es ist nicht immer ein Albtraum." „Ach nein?", fragte ich nach. „Wenn du da bist, ist es echt erträglich."
Mein verräterisches Herz begann viel zu schnell zu klopfen bei diesen Worten. Mein Herz wusste etwas schon, was mein Kopf noch nicht begriff oder zumindest nicht begreifen wollte. Mein Herz war idiotisch.

„Ich... also ich würde dich auch nicht als Albtraum bezeichnen", druckste ich herum und verdrehte innerlich die Augen für mein Gestammel. Lachend erwiderte er: „Nein, wenn das hier mein Traum wäre, dann könnte ich ja auch gar nicht der Albtraum sein. Naja, zumindest denke ich nicht, dass man sich in Träumen gegenseitig begegnen kann. Stell dir das mal vor. Vielleicht liegen wir gerade irgendwo an komplett verschiedenen Orten in unseren Betten und träumen das gleiche." Verwirrt musterte ich ihn, war er schon verrückt geworden? Bis eben war er doch noch so normal gewesen. Die Zeit hier drinnen schien ihm tatsächlich nicht gut zubekommen. „Ähm, geht es dir gut?", fragte ich leicht besorgt.

Seine Miene veränderte sich, während er mich stumm anstarrte, als läge die Antwort auf meine Frage auf der Hand. Anstelle seines Lächelns trat ein ernster Ausdruck. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, bis er mir endlich antwortete: „Nein. Wie bitte soll es mir denn gut gehen? Ich sitze seit... nicht einmal, wie lange ich hier sitze, weiß ich! Ich habe Angst und einsam bin ich auch. Seit ich hier bin, habe ich mir dutzende Erklärungen für das hier zusammengereimt und sie werden immer unwahrscheinlicher. Ich verliere meine Hoffnung...also nein, mir geht es nicht gut." Überrumpelt wandte ich meinen Blick ab. Das war echt die dämlichste Frage gewesen, die ich stellen konnte.

Fuck, wieso war ich nicht gut in solchen Dingen? Andere wüssten jetzt aufmunternde Wort oder so etwas, aber ich saß hier und konnte nur die Wand anstarren.
„Und weißt du, was das Schlimmste ist?" Seine Stimme war jetzt leiser und zögerlicher, weshalb ich wieder zu ihm schaute. „Ich kann einfach nicht aufhören an den Kuss zu denken. Er spukt in meinem Kopf und lässt mich nicht in Ruhe."

Mein Herz begann, unnormal schnell zu klopfen. Sag was, Sam. Irgendetwas.

Vielleicht fielen mir keine da hergezogenen Floskeln zur Beruhigung ein, aber ich hatte die Wahrheit. Diese beängstigende Wahrheit. Vielleicht war das der Moment, einmal ehrlich zu sein.

„Denkst du, mir geht es anders?"

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now