Kapitel 40

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Gilles Sicht

Das war ja mal wieder unglaublich gut gelaufen. Verzweifelt wollte ich mir durch die Haare fahren, bis mir wieder einfiel, dass ich sie abrasiert hatte. Ich zückte mein Handy und scrollte durch meine Kontakte auf der Suche nach jemandem, der mir jetzt helfen könnte. Da war nur leider niemand. Dean war der einzige, auf den ich in solchen Situationen zählen konnte. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass er mich vor nicht einmal mehr fünf Minuten ohne jegliche Vorwarnung aus unserer Wohnung geschmissen hatte, konnte ich wohl aktuell nicht auf ihn zählen.

Was jetzt? Hier weiter auf der Straße rumstehen würde mich auch nicht weiterbringen. Also raffte ich die beiden Taschen, die alles enthielten, was ich auf die Schnelle hatte zusammenpacken können, auf und lief einfach drauf los.

Eine neue WG zu finden, würde ewig dauern, eine neue bezahlbare WG zu finden war unmöglich. In Deans Bruchbude hatte ich für einen Appel und ein Ei ein mickriges Zimmer gehabt. Als ich vor fast drei Jahren dort eingezogen war, hatte ich nicht einmal mehr einen Mietvertragen unterschrieben, ich war einfach nur froh gewesen, bezahlbaren Wohnraum gefunden zu haben. Tja, genau das war mir jetzt zum Verhängnis geworden. Sein Bruder - ich war mir nicht ganz sicher, ob es sich um seinen echten Bruder oder einen metaphorischen Bruder handelte - war aus dem nichts aufgetaucht und brauchte scheinbar sofort eine Wohnung, weswegen Dean ihm ohne Umschweife mein Zimmer angeboten hatte. Nicht mal mehr Zeit, um mich nach etwas Neuen umzusehen, hatte er mir gelassen. Nett.

Ich musste mich wohl oder übel erstmal nach einem Hostel umsehen, das noch Plätze frei hatte - was in einer Touristenmetropole wie Miami fast noch schwerer zu finden war als eine Wohnung. Wenn alle Stricke rissen, musste ich eben in eine andere Stadt, aber das wollte ich eigentlich vermeiden. Nicht, dass ich sonderlich an Miami hing, es war zu heiß und zu überfüllt mit Touristen, aber ich hatte nun seit längerem schon meine zwei Jobs hier, die mich einigermaßen über Wasser hielten und ich hatte nun wirklich keine Lust, in einer neuen Stadt nochmal komplett von vorne anzufangen. Ich wollte-

Das konnte doch nicht wahr sein. Ich reckte meinen Hals, um einen besseren Blick zu bekommen, doch der braune Haarschopf war bereits zwischen den Passanten verschwunden. Aber ich hatte mir das nicht eingebildet, er war da gewesen. War er mir etwa gefolgt? Sicherlich, es wäre zu unwahrscheinlich, dass wir uns in dieser riesigen Stadt sonst direkt zwei Tage hintereinander zufällig trafen. Vor Allem da ich nun großräumig den Bereich um seinen Arbeitsplatz mied.

Um dieses Problem konnte ich mich jetzt nicht auch noch kümmern. Ich dachte, ich hatte mich ihm gegenüber klar ausgedrückt.

Scheinbar nicht, denn kaum war ich um die nächste Ecke gelaufen, lief er prompt in mich hinein. Sichtlich verlegen hob er in einer entschuldigenden Geste die Hände. ,,Sorry, tut mir echt leid ich...also äh. Fuck, ich habe nicht mal mehr eine Ausrede." Verzweifelt fuhr er sich durch die Haare. Diese Geste von ihm war mir so vertraut, dass ich einen Moment glaubte, keine Luft zu bekommen. Er hatte sich so gar nicht verändert. Seine Haare und alles sahen noch genauso aus wie vor sechs Jahren. Krampfhaft suchte ich nach irgendetwas, dass sich verändert hatte. Verändert haben musste. Er konnte doch nicht noch genau der gleiche sein. Aber außer der Tatsache, dass er etwas älter aussah, war da nichts.

,,Gib mir nur fünf Minuten, Gilles." Ich wand meinen Blick ab. Ich ertrug es nicht, ihn anzusehen, zu hören, wie er diesen Namen aussprach. Ich ertrug ihn nicht. ,,Bitte", setzte er flehentlich hinterher. Doch ich schüttelte den Kopf. Was sollte es ändern, wenn ich ihm nun zuhörte? Was passiert war, war passiert und nichts konnte die Vergangenheit ändern.

Er nickte resigniert. ,,Dann lass mich dir wenigstens helfen." Mit einem Nicken deutete er auf meine Taschen. ,,Nein." Dieses Mal erwiderte er nichts, also wand ich mich ab und wollte davon gehen, aber genau in diesem Moment rutschte mir einer der Griffe durch die Hand, beide auf einmal zu tragen war einfach zu schwer. Natürlich musste das genau jetzt passieren. Ehe ich mich versah, hatte Sam bereits die Tasche wieder vom Boden aufgehoben und sie über seine Schulter geworfen. ,,Die nächste Station ist noch ein ganzes Stück entfernt. Lass mich doch einfach deine Tasche tragen. Ich schwöre, ich werde nichts sagen und dir nur stumm hinterherlaufen."

Großartig, und was sollte ich dann an der Station tun? Ich wusste doch selbst nicht, wo ich hinsollte, aber das würde ich ihm ganz bestimmt nicht sagen. Doch fürs erste gab ich nach. Gestern war er mir fast fünf Blocks hinterhergerannt, ich bezweifelte, dass ich ihn nun leichter loswerden konnte.

Zumindest hielt er Wort. Ohne ein Wort zu sagen, lief er hinter mir her. Aber das brauchte er auch gar nicht, ich spürte seine Anwesenheit trotzdem überdeutlich. Als die Station in Sicht kam, versuchte ich mir hastig eine Lösung zurechtzulegen. Ich meinte, mich zu erinnern, dass es etwas weiter südlich ein oder zwei recht günstige Hostels gab, vermutlich war es das schlauste, erstmal dahin zu gehen, um mir dann eine dauerhafte Lösung zu suchen. Wenn ich denn überhaupt eine finden würde.

Kaum hatten wir die Station erreicht, sah Sam seinen Schwur wohl als erfüllt an und begann direkt wieder zu sprechen: ,,Willst du in den Urlaub?" Er sprach mit einem Unterton, der mich vermuten ließ, dass er nicht davon ausging, dass ich das tat. ,,Oder ziehst du um?" ,,Ich gehe jetzt." Auffordernd streckte ich die Hand aus. Widerstrebend reichte er mir meine Tasche, aber Anstalten zu gehen machte er keine. ,,Wohin gehst du?" Ich schnaubte. ,,Es schien dir keine Probleme zu bereiten, meinen aktuellen Aufenthaltsort zu finden, da wird es dir sicher nicht schwerfallen, auch den nächsten aufzuspüren. Wobei ich dich allerdings freundlicherweise darum bitten würde, es zu unterlassen." Ertappt kratzte er sich am Hinterkopf.

Verzweifelt blickte ich die Straße hinab. Wann kam dieser verdammte Bus denn endlich? Ich hielt das hier echt nicht mehr aus. Und Sam schien es immer noch nicht begriffen zu haben, denn er fing schon wieder zu sprechen an: ,,Das meinte ich nicht. Was ich sagen wollte... also...falls du...Eine Freundin von mir würde dir sicherlich ihre Couch anbieten, wenn-" Wutentbrannt fuhr ich zu ihm herum. ,,Ist das dein scheiß Ernst?" Ein paar Passanten drehten sich neugierig zu mir um. Sam sagte nichts mehr, scheinbar schien er endlich eingesehen zu haben, dass er mich besser in Ruhe lassen sollte.

In diesem Moment kam endlich der gottverdammte Bus um die Ecke gefahren. Ich riss Sam meine Tasche geradezu aus der Hand und stellte mich zu den anderen Wartenden.

Ein kleiner - ganz ganz kleiner - Teil in mir schrie mich an, warum ich diese Gelegenheit, die Sam mir geboten hatte, nicht ergriff. Es war Sommer, die Hostels würden überfüllt und eklig sein. Und ich würde dort sicherlich nicht nur eine Nacht verbringen, bis ich etwas Besseres gefunden hatte und was war, wenn dann das Geld knapp wurde? Aber...aber nein. Ich konnte diese Art von Hilfe nicht von ihm annehmen. Ich konnte gar nichts von ihm annehmen. Es wäre aber theoretisch ja die Hilfe seiner Freundin. Aber das machte auch keinen Unterschied...oder doch?

,,Einsteigen oder nicht?", schnauzte mich in diesem Moment der Busfahrer an. Oh, scheinbar war ich der letzte, der noch nicht eingestiegen war. Mein Blick fiel auf Sam, der sich noch immer keinen Millimeter bewegt hatte und mich weiterhin unverwandt anstarrte. Ein letzter Gedanke schoss mir durch den Kopf, ich wollte um nichts auf der Welt wieder auf der Straße landen, ehe ich widerstrebend einen Entschluss fasste.

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now