Kapitel 48

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Gilles Sicht

Jeden Tag schien die Sonne hier in Miami, aber ausgerechnet heute, wo ich mit meinen Taschen durch die halbe Stadt wandern musste, regnete es. Es war nur ein leichter Regen, aber trotzdem.

Das hier war das Richtige, das sagte ich mir immer wieder. Es war von Anfang an dämlich gewesen, überhaupt erst bei Sam einzuziehen. Er war da scheinbar mittlerweile der gleichen Ansicht, schließlich hatte er mich in der letzten Woche nicht einmal angesehen. Aber das war schon richtig so, schließlich wollte ich ja eigentlich auch gar nicht mit ihm reden. Oder sonst etwa mit ihm tun. Das letztens war ein Ausrutscher, der jetzt nie wieder passieren würde. Ein zugegeben sehr guter Ausrutscher.

„Gilles!" War das Einbildung? „Gilles, warte!" Nein, da rief tatsächlich jemand nach mir. Ich drehte mich um und traute meinen Augen nicht, Sam rannte direkt auf mich zu. Hatte ich etwas vergessen?

Schwer atmend kam er vor mir zum Stehen. „Geh nicht." „Was?" Irritiert blinzelte ich. „Bitte Gilles. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, dir aus dem Weg zu gehen und dir deinen Freiraum zu geben, schließlich war das das, was du die ganze Zeit über wolltest." „Was ich wollte?" Er nickte. „Ja und natürlich verstehe ich das. Du hast jeden Grund dafür, mich zu hassen, für das, was ich dir angetan habe."

„Sam." Er nahm meinen Einspruch gar nicht wahr und redete einfach weiter: „Aber ich will, dass du weißt, dass ich mich wirklich geändert habe." „Sam." „Gib mir nur eine Chance, dir zu beweisen, dass ich ein anderer Mensch bin. Bitte." Sein Ton wurde flehentlicher: „Gilles, ich vermisse dich. So sehr. Bitte geh nicht." Die Mauer, die ich feinsäuberlich um mein Herz gezogen hatte, schmolz dahin. Einfach so. Warum hatte er bloß solche Macht über mich? Das war nicht gut.

„Sam, jetzt hör mir doch mal zu! Ich sehe doch, dass du dich verändert hast. Aber das habe ich auch. Es sind sechs Jahre vergangen, das können wir nicht einfach ignorieren. Doch genau das tust du. Du machst da weiter, wo wir aufgehört hatten, als wären eben nicht sechs Jahre vergangen." Energetisch schüttelte er den Kopf, aber dieses Mal war ich es, der ihn nicht zu Wort kommen ließ: „Oh doch! Wir küssen uns - schlafen beinahe miteinander! - und was machst du? Du gehst mir aus dem Weg. Das ist genau das gleiche wie vor sechs Jahren."

Ein Passant rempelte mich an und erinnerte mich, wo wir uns befanden. Etwas gefasster redete ich weiter: „Warum siehst du nicht ein, dass es das Beste ist, wenn unsere Wege sich trennen? Die letzten sechs Jahre sind wir doch scheinbar beide klargekommen und das hier", ich deutete von ihm zu mir, „macht alles nur unnötig kompliziert. Je schneller wir wieder getrennte Wege gehen, desto schneller wird alles wieder normal."

„Wir sind also klargekommen, ja? Du wirkst auf mich nicht gerade, als hättest du die schönsten Jahre deines Lebens hinter dir. Aber statt darüber zu reden, willst du weglaufen." Hilflos reckte er die Hände und wandte sich ab. Ich hatte gesagt, was ich sagen wollte, also blieb ich stumm. „Du rennst davon", fing er erneut an, „nicht ich!

Willst du immer so weitermachen? So tun, als wäre nichts passiert. Mit niemandem reden. Vielleicht sogar wieder in eine neue Stadt ziehen mit einem neuen Namen. Denn das hast du getan, oder? Deswegen der andere Name auf deinem Becher im Café." Es war in der der Tat mein Plan gewesen, mit niemandem darüber zu reden. Das war der leichteste Weg, ich hatte genug Schwierigkeiten hinter mir. Aber wenn ich jetzt Sam in die Augen sah, verspürte ich das dringende Bedürfnis ihm alles zu erzählen. „Bitte, Gilles. Lass uns nur reden."

Warum war das hier so schwer? Wobei, vermutlich sollte die Frage eher lauten, warum machte ich es mir so schwer? Weil du Angst hast, höhnte die Stimme in meinem Kopf. Und verdammt, sie hatte Recht, ich hatte Angst. „Ich...ich kann dich nicht nochmal verlieren." Ihn nochmal zu verlieren, würde ich nicht verkraften, ich bin schon an dem einen Mal fast zerbrochen. Ich musste also gehen, bevor es zu spät war.

Meine Stimme war nur ein Flüstern, beinahe nicht zu hören bei der Geräuschkulisse der Fußgängerzone. Aber Sam hatte mich trotzdem verstanden. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz und vorsichtig griff er nach meiner Hand. Unmittelbar fing mein Herz an, schneller zu schlagen. Es war, als würde jede seiner Berührung eine Tür öffnen, die die Erinnerungen an früher freigab. „Nun", ein schüchternes Lächeln stahl sich auf seine Lippen, ,,ich hatte nicht vor, erneut ins Gefängnis zu gehen. Du kannst mich also so schnell gar nicht wieder loswerden." Fast wäre mir ein Schnauben entwichen, doch im Gegensatz zu einem Augenrollen konnte ich es gerade noch verhindern.

Ermutigt durch meine Reaktion drückte Sam meine Hand. Es war so eine simple Geste, vermutlich hatte er sich gar nicht viel dabei gedacht, aber auf einmal war ich wieder in meiner Zelle vor sechs Jahren und sah ihn neben mir, wie er mit eben dieser Geste meine dunklen Gedanken vertrieb. So wie er es immer getan hatte. Diese Sorglosigkeit wollte ich wieder haben. Ich...wem genau machte ich hier eigentlich etwas vor? Ich wollte ihn wieder haben. Mein Plan, jetzt zu verschwinden, wo es noch nicht zu spät war, als dass es mich verletzten würde, war doch auch nur Wunschdenken. Ich hatte ihn schon wieder viel zu nahe an mich herangelassen, als dass das funktionieren würde.

Sams Gesichtsausdruck wurde wieder ernst, nachdem ich noch immer nichts gesagt hatte. „Tut mir leid, schlechtes Timing für einen Witz. Aber ich habe auch Angst und das macht mich nervös." Das war so absurd, dass ich ein Schnauben dieses Mal nicht unterdrücken konnte. Als wenn Sam irgendetwas Angst machen könnte.

„Tu nicht so, als wäre dir nicht klar, wie wichtig du mir bist." Er klang so bestimmt, dass ich schlucken musste. Wenn er weiter solche Dinge sagte, stand es nicht gut um meine Selbstbeherrschung. „Ich habe genau so viel zu verlieren, denn - Überraschung - ich musste auch die letzten Jahre ohne dich auskommen und weiß ganz genau, dass ich das nicht noch einmal will. Ich will dich bei mir und das macht mir Angst, denn ich empfinde zu viel für dich, als dass ich damit klarkommen würde, wenn das hier nicht funktioniert. Allerdings werde ich das wohl müssen, denn du -" Wie der Satz zu Ende gehen sollte, würde ich wohl nie erfahren, denn ich hatte ihn zu mir gezogen und meine Lippen auf seine gedrückt. Einen Moment schien er zu überrumpelt, um überhaupt zu reagieren, doch dann schlang er besitzergreifend seine Arme um mich und küsste mich mit einer Leidenschaft, als hinge sein Leben davon ab. Oh Gott, er war wirklich mein Untergang.

„Du hattest Recht", murmelte er zwischen zwei Küssen. „Womit?", fragend löste ich mich von ihm. „Du hast doch gesagt, wir würden uns auch in einem anderen Leben finden und dass es dann zu einem klischeehaften Kuss im Regen kommen würde." Daran erinnerte er sich? „Tja, ich habe immer Recht." Plötzlich legte sich ein undefinierbarer Ausdruck auf sein Gesicht. „Das. Das habe ich vermisst. Deinen Sarkasmus." Ich verdrehte die Augen: „Du hasst doch meinen Sarkasmus." Aber er schüttelte nur lächelnd den Kopf.

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now