Kapitel 44

72 8 0
                                    

Sams Sicht

Genüsslich schlürfte ich meinen Kaffee. Dienstags konnte ich den nämlich wirklich genießen, ohne dass er mich daran erinnerte, dass ich gleich zur Arbeit musste, denn dienstags war mein freier Tag. Ich könnte so viel tun heute. Vielleicht würde ich den Tag aber auch einfach entspannt im Bett verbringen, wer konnte mich schon aufhalten?

„Möchtest du darüber reden?" Sheas Frage riss mich aus der schönen Planung meines freien Tages. „Was?" Irritiert schüttelte ich den Kopf. Wissend blickte sie von ihrer Zeitung auf. Ja, Zeitung. Shea kaufte sie sich mehr oder weniger regelmäßig, um zu schauen, was die Medienhäuser aktuell für erwähnenswert aus dem Weltgeschehen befanden und welche echten Probleme sie ignorierten.

„Ich meine deinen Blick gestern." Ich stand immer noch auf dem Schlauch. „Welcher Blick?" Theatralisch seufzend legte sie ihre Zeitung ab. „Deinen Blick, als Gilles seinen Kopf auf deine Schulter gelehnt hat." Ich wollte unbeteiligt wirkten, konnte jedoch ein kleines Zusammenzucken nicht verhindern. Sie hatte mich erwischt.

Gestern Abend wollte ich auch unbeteiligt wirken, aber als aus heiterem Himmel auf einmal sein Kopf auf meiner Schulter lag, hat mein Körper etwas verrückt gespielt. So nahe war ich ihm schließlich seit ... nun seit sehr langer Zeit nicht mehr gewesen.

„Das war nichts." Mein Ton machte klar, dass ich keine Widerrede hören wollte und so zog sie nur missbilligend die Augenbrauen hoch.

In diesem Moment betrat Gilles die Küche. Obwohl er recht lange geschlafen hatte, sah er müde aus. Müde und echt fertig. Er wohnte nun schon einige Zeit bei uns, aber ich konnte keine Verbesserung seines Aussehens feststellen. Er machte mir ernsthafte Sorgen.

„Oh guten Morgen, Gilles. Das trifft sich gut, dass ich euch beide heute Morgen noch zusammen erwische. Ich wollte euch nämlich noch sagen, dass Paul und Brice am Samstag herkommen. Paul ist mein Cousin und ein Freund von Sam und Brice ist Pauls fester Freund." Den letzten Satz schob sie als Erklärung an Gilles hinterher. „Wir wollen zur Pride Parade gehen." Ich ahnte, was jetzt folgen würde.

„Ihr könntet ja mitkommen...?" Sie setzte ihr überzeugendes Lächeln auf und sah abwechselnd von mir zu Gilles. Aber ich schüttelte sofort den Kopf. „Ne, lass mal." „Ach Sam. Zeig doch mal etwas Support!" Ich schnaubte. „Ist meine Existenz nicht Support genug?" Mit einem Augenverdrehen wandte sie sich an Gilles: „Und was ist mit dir." „Ich denke nicht, dass das etwas für ihn ist", antwortete ich wie automatisch an seiner Stelle.

Ich hatte es nur nett gemeint, da ich mir sicher war, es wäre ihm lieber, nicht wieder von Shea zu einer sozialen Aktivität überredet zu werden, doch wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, war das nach hinten losgegangen. „Und wieso kannst du das beurteilen?" Trotzig wandte er sich zu Shea: „Ich komme gerne mit." „Na gut, dann komme ich eben auch mit." Augenblicklich verschwand Gilles Grinsen. Dafür strahlte Sheas umso mehr. „Oh super, das wird einfach toll!"

„Habt ihr es denn jetzt bald mal?" Ungeduldig sah Paul zum wiederholten Male auf die Uhr. Brice und Shea waren noch immer im Badezimmer. Sie gaben sich mit ihren Outfits etwas mehr Mühe als Paul, Gilles und ich, wir trugen einfach unsere alltäglichen Sachen. Und so saßen wir nun schon seit geraumer Zeit hier im Wohnzimmer und warteten.

Es war seltsam für mich gewesen, die beiden einander vorzustellen, schließlich hatte ich beiden jeweils schon von dem anderen erzählt, ohne dass sie es wussten. Schwer zu sagen, was die beiden voneinander hielten, da Gilles außer einer kurzen Begrüßung heute noch nicht wirklich etwas gesagt hatte. Brice war ihm gegenüber jedenfalls sofort abweisend gewesen, vermutlich weil ich ihn als einen Freund von mir vorgestellt hatte. Dafür hatte ich einen wütenden Blick von Gilles kassiert.

„Wir sind doch schon da", flötete Shea, als die beiden endlich zu uns kamen. Kein Wunder, dass die beiden so lange gebraucht hatten, beide hatten ein aufwendiges Make-up aufgetragen, das sich wirklich sehen lassen konnte. Auf Sheas linker Wange war die Pan-Flagge gemalt und auf die rechte die Ace-Flagge. Sie trug ein kurzes gebatiktes Kleid in Pastell-Tönen, während Brice ein durchsichtiges glitzerndes silbernes Oberteil zu einer schwarzen Lederhose trug. „Ihr seht beide super aus. Jetzt lasst uns endlich gehen!" Eilig scheuchte Paul uns zur Tür raus, ehe noch irgendjemand einfallen könnte, dass er etwas vergessen hatte.

Obwohl bei unserer Ankunft bereits tausende von Menschen da waren, fand Shea im Handumdrehen einige ihrer Freunde und stellte uns einander vor. Zwar waren ihre Freunde sehr nett, aber ich konnte mich kaum auf die Unterhaltung mit ihnen konzentrieren, da mein Blick immer wieder sorgenvoll zu Gilles wanderte, der etwas verloren danebenstand. Ich wollte ihn gerne mit ins Gespräch einbinden, aber wenn das von mir ausging, würde es ihn sicher nur wieder aufregen. Wo war bloß der laute Gilles geblieben, der nicht aufhören konnte zu reden - ganz egal, ob sein Gegenüber ihm zuhören wollte oder nicht?

Das war nicht deine Sorge, er will deine Freundschaft nicht, rief ich mir in Erinnerung. Also versuchte ich, mich abzulenken. Wie aufs Stichwort kam ein weiterer Freund von Shea mit einer ganzen Menge von Alkohol an. Dankend nahm ich ihm einen Becher ab. Ich trank nicht sehr oft, aber ab und an fand ich es ganz in Ordnung. Vor Allem da ich wusste, dass man beim Trinken in Sheas Gruppe immer gut aufgehoben war, weil viele auch gar nicht tranken und es immer ein verantwortungsbewusster Umgang mit dem Alkohol war. Ich konnte es nicht ab, wenn sich alle bis zur Besinnungslosigkeit betranken und dann irgendwelche Scheiße anstellten.

Nach und nach stieg der Pegel, die Musik wurde lauter und alle Leute ausgelassener. Es wurde getanzt, gesungen und ich hatte unglaublich viel Spaß. „War doch nicht so eine schlechte Idee, dass ich euch hergebracht habe, was?" Shea stellte sich neben mich. „Nein, du hattest Recht, es war wirklich eine gute Idee", pflichtete ich ihr bei.

„Gilles scheint sich sogar auch mal zu amüsieren." Erstaunt riss ich die Augenbrauen hoch und folgte mit meinem Blick der Richtung, in die zeigte. Ich sah ihn, mit zwei von Sheas Freunden ein paar Meter von uns entfernt stehen. Und er lachte. Gilles lachte. Ich war so verblüfft, dass ich den Blick einfach nicht von ihm abwenden konnte. Als sein Lachen einmal bis zu mir klang, fuhr ein Ruck durch meinen Körper. Auf einmal war ich wie zurückversetzt, in die Zeit vor sechs Jahren und stellte mir vor, wie Gilles sich gerade über irgendetwas lustig machte, das ich gesagt oder getan hatte. Nur das er jetzt gerade nicht wegen mir lachte, was mir ehrlich gesagt einen kleinen Stich versetzte. Wie selbstsüchtig konnte man sein?, höhnte die Stimme in meinem Kopf. Und sie hatte Recht. Denn die Hauptsache war, dass er lachte und scheinbar zumindest für den Augenblick der alte Gilles zurück war.

„Ah, da ist schon wieder dieser Gesichtsausdruck." Wissend sah sie mich über den Rand ihres Bechers hinweg an. Dabei wusste sie gar nichts. Und selbst, wenn ich es ihr erklärte, sie könnte niemals verstehen, was der Anblick von Gilles Lachen mir bedeutete.

Fill me with poisonWhere stories live. Discover now