Freitod

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Eigentlich war ich jemand, der den Sommer nicht so toll fand. Diese ständige Hitze ließ meine Angst vor dem Überhitzen des Planeten nur noch mehr wachsen. Aber gerade war es genau die richtige Temparatur, um in T-Shirt und kurzer Hose herumzulaufen, ohne zu schmilzen.

Der spontane Ausfall der letzten Unterrichtsstunden hatten meinen besten Freund und mich dazu veranlasst, gemeinsam durch ein Wohngebiet zum Bahnhof zu laufen. Er hatte einen Basketball in der Hand und dribbelte ihn immer wieder vor sich her, passte ihn mir zu oder versuchte, ihn auf dem Finger zu drehen. Dazwischen wechselten wir ein paar Worte, meistens mit sarkastischem Unterton.

Er würde bald die Schule verlassen, um eine Ausbildung anzufangen. Nun schwärmte er die ganze Zeit von seinem zukünftigen Job. Ich beneidete ihn dafür ein bisschen. Er hatte seinen Platz in der Gesellschaft gefunden, ich hingegen suchte meinen noch verzweifelt und wusste nicht, wohin mit mir. Ich machte bald mein Abitur und trotzdem fühlte ich mich noch wie ein Kleinkind.

Diese große weite Welt, die ganze Verantwortung, das System, in das ich da hineingeworfen wurde, schien so knallhart und riesig, dass ich mich ihm nicht gewachsen fühlte. Es überforderte mich maßlos, auf einmal Erwachsen zu sein und mich so verhalten zu müssen. Ich sollte bald eine Ausbildung suchen, vielleicht studieren gehen, wegziehen, die Welt sehen. Aber ich habe Angst davor. Mein ganzes Leben wurde ich damit konfrontiert, und auf einmal soll ich selbst so sein.

Das ist so unwirklich und es macht mir unheimlich viel Angst. So viel Angst, es vertreibt mir jegliche Freude am Leben.

Schon seit Ewigkeiten denke ich darüber nach, wie ich mich am schmerzfreisten umbringen kann.

Es ist nicht so, dass ich sterben will. Ich habe nur keine Perspektive mehr. Wenn ich in die Zukunft sehe, stelle ich mir vor, auf der Bühne zu stehen und Menschen zu begeistern. Aber das ist ein Luftschloss. Ein Traum, der nie in Erfüllung gehen wird.

Und jetzt habe ich allen Spaß am Leben verloren, gehe langsam darin unter. Dabei bereitet mir dieser simple Gang zum Bahnhof mit meinem besten Freund schon eine gewisse Freude. Die Atmosphäre strahlt eine gewisse Harmonie aus.

Gestern hatten wir zwischen zwei Unterrichtsstunden eine Freistunde gehabt und sind mit einem Klassenkameraden runter in die Stadt gefahren, um uns beim Dönermann ein Mittagessen zu holen. Dieser Typ hatte ein Auto gehabt, so einen winzigen Gebrauchtwagen. Wir haben uns zu viert auf die winzige Rückbank gequetscht. Aber es hat Spaß gemacht. Ich habe viel gelacht, gewitzelt, gelebt- irgendwie.

Simple, alltägliche Situationen wie diese lassen mich den Glauben an die Menschheit wenigstens ein bisschen aufrecht erhalten. Sie lassen mich einbilden, dass alles noch irgendwo gut sei. Dass es noch schöne Dinge im Leben gab.

Vielleicht genieße ich sie so, weil ich sie so selten erlebe.

Aber trotz allem- Ich sah keinen Sinn mehr im Leben.

Dies war auch der Grund, warum meine Schritte auf einer Fußgängerbrücke immer zögerlicher wurden. Eigentlich überquerte ich sie jeden Tag, um zum Bahnhof zu kommen. Doch heute packte mich endlich der Mut, das alles hier zu beenden. Der Gedanke löste einen Schwindel in mir aus, der tief in mir drin irgendwo anfing und sich zu meinem Kopf hocharbeitete. Auf wackeligen Beinen wurde ich langsamer.

Mein bester Freund drehte sich zu mir um, als er bemerkte, dass ich nicht mehr neben ihm war. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er sah, wie ich auf das Geländer kletterte. Mein Rucksack lag zu meinen Füßen und das Handy daneben. Ohne Sperrcode.

Er fragte, was ich da tat, warum ich das tat, dass es einen anderen Weg gab, doch seine Worte prallten an der Watte ab, in die mein Verstand gebettet war.

„Ich will nicht sterben. Aber ich kann hier niemandem von Nutzen sein", sagte ich, mit Tränen in den Augen. Sie liefen mir alsbald hemmungslos die Wangen hinunter, und mein bester Freund stand perplex und wie versteinert da und wusste wohl nicht, was er tun sollte. Seine Kinnlade war hinuntergeklappt, und ich hörte ihn noch meinen Namen rufen, als ich mich schließlich mit den Worten: „Danke für alles, ich werd' dich vermissen" nach hinten fallen ließ und in die Tiefe stürzte. 

Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus, Schwindel ließ mich vergessen wo oben und unten war und ließ mich grinsen. Eine kurze Panik kam in mir auf, weil jetzt gleich alles vorbei war, aber gleichzeitig auch die Freude darauf, endlich den Mut dafür gehabt zu haben. Ich hatte es nie für möglich gehalten, so viel in nur zwei Sekunden auf einmal fühlen zu können, doch nun war ich froh, dass es meine letzten zwei gewesen waren.

Ich hatte den Zug kommen hören.

Das letzte, was ich mit Tränennassen Gesicht und breitem Lächeln im Gesicht wahrnahm, war, dass mein Körper gegen einen Zug prallte und unter unglaublichen Schmerzen in Stücke gerissen wurde.

Ja, es war ein mir würdiges Ende gewesen. Vielleicht stand mein bester Freund ja oben am Geländer und starrte mir fassunglos nach, weinte vielleicht sogar. Es konnte mir nun egal sein, denn meine gesamte Existenz war binnen Sekunden ausgelöscht worden.


Oneshot FreiheitWhere stories live. Discover now