Freiheit zu Pferd

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Sie atmete tief ein und aus, als sie auf den morschen Stuhl stieg, der am Rand des kleinen Reitplatzes stand. Ihr Ziel war es, auf ihre kleine graue Ponystute aufzusteigen, die bereits ungeduldig mit dem Vorderhuf scharrte. Sie wollte endlich los.

Die rothaarige hob ihr Bein und schwang es über die graue Kruppe des Ponys, einen Moment später saß sie auf dem Rücken der kleinen, feurigen Ponystute. Ihre langen Beine, die in einer kurzen, blauen Hose steckten und dessen Füße in modrigen, alten Chucks steckten, bekamen kein einziges Haar von dem edlen, grauen Fell ab. Obwohl ihre Beine reichlich lang und ihr Oberkörper zu groß für die Stute waren, schien ihr die Last des Mädchens auf ihrem Rücken nichts auszumachen. Sie schnaubte wohlig und trottete von allein los. 
Das rothaarige Mädchen auf ihrem Rücken strich sich durch die Haare, ehe sie die Zügel in die Hand nahm und der Stute durch die schwarze Mähne wuschelte. Sie lenkte den grauen Vierbeiner vom Reitplatz und auf die Straße, von der sie wusste, dass von ihr ein Feldweg abgehen würde. Es war keine richtige Straße, hier fuhren nur selten Autos vorbei.

Munter trottete die graue Stute vom Reiterhof, den sie wie ausgestorben hinter sich ließ.

Die Pferde, die normalerweise in ihren Paddocks standen und neugierig über den Hof blickten, standen nun grasend auf der Weide. Die Ferienkinder, die jetzt eigentlich Reitstunde hatten, waren mit den Besitzern des Hofes auf einen Ausflug gegangen. Da die vierzehnjährige die letzten Tage fleißig geholfen hatte, jeden Paddock und jeden Offenstall und auch den Reitplatz und die Halle während den Reitstunden von Pferdeäpfeln sauber zu halten und nebenbei zu Beginn der Reitstunden jedem Ferienkind beim Satteln und Trensen jedes Schulpferdes geholfen hatte, erlaubte ihr die Besitzerin, mit der kleinen grauen Ponystute, die einen feurigen Ausdruck in ihren Augen liegen hatte, während ihrer Abwesenheit auszureiten. Sie ging nicht in Reitstunden mit, da sie ein wenig störrisch war und nur wenige Reitanfänger sich trauten, sie zu reiten. Nur wenige konnten sich auf dem schmalen Rücken der Stute halten und ihr zeigen, wer der Anführer war.

Das Mädchen, welches jedoch gerade auf ihrem Rücken saß und in die Ferne blickte, war anders. Sie hatte sich auf das Pony eingelassen. Sie hatte es am Führstrick genommen und der Stute ohne Worte klargemacht, dass sie keine Angst haben brauchte und sie ihr vertrauen konnte. Und die Stute tat es. Sie ging neben der rothaarigen her, als wäre sie die Ruhe selbst, genauso verhielt sie sich beim Reiten. Sie wusste, dass das Mädchen nichts Böses mit ihr vorhatte. So folgte sie ihren teilweise minimalen Anweisungen, die sie durch Schenkeldruck oder Zügelparaden bekam. Sie bettelte bei ihr nicht nach Leckerlis, bei ihr reichte ein einfaches, ausgesprochenes Lob. Sie konnte praktisch fühlen, dass dieses Mädchen gleich die Freiheit spüren wollte. Und die Ponystute wusste auch schon genau wie. 
Das Mädchen auf ihrem Rücken unterdessen saß gelassen und entspannt, aber doch mit geradem Rücken und erhobenen Kopf da und ließ die Beine am grauen, schmalen Pferdekörper hinunterhängen. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Sie wusste, dass die unberechenbare Stute unter ihr nicht böses vorhatte und nur auf die kleine Hilfe wartete, um endlich schneller werden zu dürfen. Sie ließ die Zügel lang und blickte über die weite Landschaft. Ihre Gedanken wanderten hin nach Hause. Zwanzig Autominuten von hier war dieser Ort, mit dem sie Verschlossenheit und Uneinigkeit, aber auch Zuhause, Geborgenheit und Schutz verband, entfernt. Aber diese Entfernung reichte schon, um sie all das vergessen zu lassen.

Ein leichter Windzug riss das verträumte Mädchen aus ihren Gedanken. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der grauen Stute und dem Weg, der vor ihnen lag. Die Stute hob munter den Kopf in den Wind, der mit ihrer Mähne und mit den langen, roten Haaren des Mädchens spielte. Dann ließ sie ein Wiehern hören. Ein dunkles, welches tief aus ihrem Brustkorb kam, ein Wiehern, welches die innerliche Freiheit ein Stück zum Vorschein brachte. Die Rothaarige verstand diese Aufforderung, diese Geste, nur zu gut, vergrub ihre Hände in der schwarzen, dünnen Mähne und drückte mit ihren Waden leicht in die Flanken des Ponys. 
Dieses erwachte sofort aus seiner Lethargie und holte mit ihren Hufen weit aus. Sie stürmte los, als ob sie vor dem Teufel auf der Flucht sei, sie galoppierte direkt aus dem Schritt an, vergaß dabei scheinbar, den Trab für einige Schritte lang auszuführen. Aber das störte weder die Stute noch ihre Reiterin. Die graue wusste, dass das Mädchen auf ihrem schmalen Rücken in die Freiheit wollte. Und sie allein wusste, wie sie sie dort hinbringen konnte.

Die Ponystute machte größere Galoppsprünge, ihre kleinen, festen Hufe donnerten über den mit Gras zugewachsenen Weg. Da sie wusste, dass ihre Reiterin sich jetzt noch mehr Mühe gab sitzenzubleiben als gleich, wenn sie frei waren, schlug sie einen Haken, um auf die Wiese zu gelangen, die neben dem Feldweg lag. Wie erwartet blieb die Reiterin sitzen, ihre Beine schlangen sich fest um den Bauch des Ponys. Die Zügel waren Nebensache, sie flatterten im Wind locker und lang am kurzen Hals der Grauen. 
Der neue Boden, die nachgiebige Wiese mit der duftenden Erde, veranlasste die Stute dazu, ihre kurzen Beine noch schneller zu bewegen und der Rothaarigen auf ihrem Rücken das Gefühl zu geben, die dicke Mauer der gefangenen Gesellschaft zu durchbrechen und in die Freiheit zu stürmen. Weg von den Regeln, weg von der Zivilisation, weg von den Menschen, unter denen sich das Mädchen und auch die Stute so unwohl fühlten.

Obwohl die eigenartige rothaarige erst vierzehn Jahre lebte und auch ein Mensch war, fühlte sie sich nur unter sehr wenigen wohl und aufgenommen. Und zwar unter denen, die ihre eigenartige Art mochten und die Sprache der Pferde wenigstens ansatzweise verstanden und versuchten, sie noch mehr zu verstehen. Aber selbst die vergaß das Mädchen für diesen Moment.

Ihr Kopf wurde von allen negativen Gedanken für einen Augenblick befreit, In diesem Moment gab es nur sie und das Pony, welches den Schlüssel zur Freiheit benutzt und das gewaltige, schwere Tor, das nur wenige öffnen konnten, geöffnet hatte. Nur der Wind, der die Haare des Mädchens und die Mähne und den Schweif der Stute quasi zurück hinter die Mauer ziehen wollte, schien ein Hindernis zu sein, doch die Graue war schneller und überwand dieses Hindernis für den einen Moment mit Leichtigkeit.

Im Gesicht des Mädchens breitete sich ein strahlen aus, der ernste Gesichtsausdruck, in dessen Augen man die mentale Folter des alltäglichen Daseins sehen konnte, war nicht im Geringsten zu sehen.

Jetzt war er da, der Moment, wo Pony und Mädchen für ein paar Sekunden über Minuten frei waren, sie der Gegenwind oder die Mauer der Gefangenschaft nicht einholen und einnehmen konnten. Nicht eine Regel beachteten sie, die Stute wählte den gemeinsamen Weg über die Wiese, die von Menschen geformt quadratisch wie jede andere in der Landschaft lag. Wenigstens die kleinen Hügel, die seit sehr viel Jahren dort waren, konnten sich von der Menschlichen Perfektion nicht bändigen und erniedrigen lassen, sie bildeten den Horizont, von dem die Sonne noch weit entfernt war.

Die Graue wurde immer schneller, und die Hände des Mädchens hielten sich nicht länger an der Mähne fest, sie streckten sich ganz von allein gerade zur Seite aus, die Finger spreizten sich. Sie schien die Freiheit einfangen und behalten zu wollen, als gäbe es nichts Anderes, was sie zum Leben bräuchte. Die Stute senkte ihren Kopf, der auf einem kurzen Hals, der tief angesetzt war, thronte und blähte ihre Nüstern. Sie sog die frische, nach Natur riechende Luft ein und zog daraus neue Energie fürs Laufen heraus.

Nichts konnte die beiden stoppen, nichts konnte sie aufhalten oder zurückholen, für diesen Augenblick waren beide frei. Und sie nutzten dieses Gefühl bis zum Limit aus, bevor die Zivilisation wieder schneller war, gegen die schnellen Schritte der grauen Ponystute ankam und auch das rothaarige, vierzehnjährige Mädchen wieder in die gefangene Welt zurückbrachte.


(Written in 2016, published in 2019)

Oneshot FreiheitWhere stories live. Discover now