Kinonächte

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Manchmal mochte ich diesen Zustand, den ich erreichte, wenn ich den ganzen Tag irgendwo herumgelaufen war, von Impressionen überhäuft und mit tauben Füßen.

Ich war müde, schläfrig, und dennoch fit genug, um völlig in Gedanken zu versinken. Den Weg zu meinem Ziel hätte ich bloß gefunden, wenn ich ihn bereits so oft gegangen wäre, dass ich ihn im Schlaf gehen könnte. Dem war heute nicht der Fall, aber dennoch hielt mich nichts davon ab, die Umgebung mit meinen Augen zu betrachten, als sei sie ein Kunstwerk.

Der Grund, warum ich das Tat, war die Person, die neben mir lief. Die dichten, dunkelblau gefärbten Haare hätten eigendlich die Sicht lange verdecken sollen, aber dennoch blitzten die Augen durch die bunten Strähnen hindurch, wie zwei Sterne, die man auf dem Himmelszelt neu entdeckte.

Diese Person kannte mich gut, besser als alles andere auf diesem Planeten. Sogar besser, wie meine Familie. Alle sagten, ich sei verträumt, vergesslich, fanden es süß, wie ich tollpatschig über die eigenen Füße stolperte, während ich die bunten Streusel auf meinem Donut wie besessen anstarrte.

Sie hatten interessant ausgesehen, das Sonnenlicht über mir hat sie so schön schimmern lassen.

Nur diese eine Person, die mit den Händen tief in den Jackentaschen vergraben neben mir herging, verstand, was da in mir vorging. Sie wusste, dass ich mich lieber meinem eigenen Kopf widmete, als den Meinungen anderer. Sie wusste, dass ich die Dinge von so einer neutralen Sichtweise betrachten konnte, wo andere sich schon gezwungen hätten, sich eine Meinung zu bilden. Diese Person wusste verdammt noch mal, dass in meinem Kopf mehr vor sich ging als in der gesamten Großstadt, in der wir uns gerade befanden, und nahm es hin, wie die Löcher in ihrer Hose: Die Löcher waren mit absichtlich größer gerissen worden und ein paar Sicherheitsnadeln drumherum gepinnt worden. War schön so, war darüber gesagt worden.

Mir hatte diese willkommene, warme Erscheinung ein paar Ohrenschützer aufgesetzt. Sie hatte gemeint, das würde mich warmhalten. Das tat es auch, und schirmte mich gleichzeitig von den Stadtgeräuschen ab, sodass ich immer tiefer und tiefer in Gedanken versank. Durch den Schal, den ich mir bis zur Nase hochgezogen hatte, kam ich mir vor, wie ein Taucher, der vom Fenster eines Aquariums verschwand und mit einer anderen Welt konfrontiert wurde, die soviel schöner, wie auch hässlicher war, als das, was man eigentlich „Zuhause" nannte.

Ich bin weg vom Fenster.

Meine Gedankengänge, die sich in Gerüchen, Geräuschen, Bildern und Sprachen, deren Namen ich nicht kenne, ausdrücken, wandern zu der Person neben mir, die ihre schwarze Lederjacke enger um sich geschlungen hat. Die Jacke ist voller Farbflecken, auf so manchen übermütigen, betrunkenen, nicht ganz legalen nächtlichen Trips entstanden, während sie versucht hat, mit benebelter Sicht und Farbenblindheit Kunstwerke an Mauern zu sprühen.
Auf manche der helleren Flecken wurden einzelne Worte gekritzelt- Ich bin so tief in Gedanken versunken, ich kann sie nicht mehr lesen. Ich weiß aber trotzdem aus irgendeinem Grund, was da steht.

Ob ich definieren will, wer mein Begleiter nun ist, habe ich schon lange entschieden: Gar nicht. Ohne es zu wollen, kommt dieser Mensch immer wieder aufs Neue mit neuen Impressionen und Facetten an, wenn ich glaube, den Caracter zu kennen, zeigt sich mir eine weitere Seite davon. Und ich mag es, ich stelle es gar nicht erst in Frage. Ich definiere diese Person nicht mit einem Familiennamen, nicht mit einem Geschlecht, nicht mit einem Kleidungsstil, nicht mit einer gesellschaftlichen Norm oder Rolle, sie ist einfach da und macht das Leben für mich ein bisschen einfacher.

Mir wird die Tür aufgehalten, als wir das große, wuchtige Gebäude betreten, dass uns von außen mit der bläulich-schwarzen Fensterfront beinahe geheimnisvoll und imposant seinen Eindruck vermittelt hat. Von innen wirkt es fast noch epischer. Es wirkt so riesig, als wäre das riesige Gebäude innen hohl, aber trotzdem ist hier genug Platz für mehrere Kinosäle, Snackbars und gemütliche Wartebereiche. Die dunklen, monotonen Töne der Farbpallette der Architecktur werden von zahlreichen Filmpostern, blinkenden Werbeschildern, die Süßigkeiten anpreisen, den dazugehörigen Süßigkeiten und den pinken Kissen auf den Sofas unterbrochen und aufgehellt. Kombiniert mit leisen, hallenden Stimmen und dem Summen von Automaten, das gedämpft durch die Ohrenschützer an meine Ohren kommt, und dem Geruch von Popcorn, Süßigkeiten und dem Leder von den neuen Sofas lässt es mich hier sofort wohl fühlen.

Eine Gänsehaut durchfährt mich, als würde ich die von Draußen aufgesammelte Kälte abschütteln. Ich folge meinem Begleiter ohne hinzusehen, mein Blick gilt den vielen hübschen Dingen hier und dem Gesamtbild, dass sich meinen Augen zeigt. Die Person mit den blauen Strubbelhaaren, der bunt betupften schwarzen Lederjacke und der ranzigen Motorradhose rundet den Anblick für mich perfekt ab.

Ich wünschte, ich könnte dieses Bild von Kay beim In-ein-Kino-laufen für immer festhalten und irgendwo, mit allen Impressionen, die gerade auf mich einprasseln, an meine Wand hängen. Aber so, wie ich mich kenne, wird spätestens morgen früh wieder alles hiervon weg sein. Impressionen kommen und gehen, in jeder Form. Und zu mir kommen zu viele von ihnen. Es ist, als würden alle Impressionen, die andere nicht wahrgenommen haben, auf mich einprasseln, weil ich sie nicht abwehren kann.

Kay weiß das. Nie werde ich auf irgendetwas schönes am Wegrand aufmerksam gemacht, denn ich habe es schon längst entdeckt und gedanklich auseinandergenommen. Nie wird mir Musik oder ein Film oder ein Buch oder irgendetwas anderes von Kay vorgeschlagen- Kay weiß, dass mich mein Kopf ohnehin schon mit komplizierten Gedankengängen mehrfach die Minute mental Ohrfeigt, „Bitchslapt"

Ich folge Kay durch die Kinokasse, die Snackecke und schließlich die mit Teppich ausgelegten, quer durch das Gebäude sich windenden Treppen hinauf zu einem der Kinosäle. Zusätzlich benebelt jetzt noch das Wissen, die herrlichsten Leckereien in der Tüte in meinen Händen zu haben, meine Wahrnehmung. Kay trägt die Getränke und hat auch die zwei Filmtickets, die wir eben genauso wie die Süßigkeiten gemeinsam gekauft haben.

Der Teppich unter meinen Füßen ist schwarz und zeigt ab und zu das Logo des Kinos, sowie Filmwerbung, das Geländer der schwebenden Treppen und Gänge ist aus Glas und glänzendem Edelstahl und lässt mich das Foyer des Kinos aus den verschiedensten Perspektiven betrachten. Ich entdecke weitere Menschen am Eingang, sehe zwei Mitarbeiter in ihren roten Oberteilen in der Snackecke diskutieren und höre die Stimmen zwischen den gigantischen Wänden und der Glasfront, die den Blick auf den Abendverkehr freigibt, wiederhallen. Die Schritte von Kay leiten mich, ich vertraue ihnen. Sie werden mich sicher in den richtigen Kinosaal bringen, da kann ich mir sicher sein.

Kay hat mir noch nie bewiesen, dass man einer Person nicht blind vertrauen sollte, Ich ebenso. Auch wenn ich es nicht unbedingt in Worten an die große Glocke hänge, in meinem Kopf denke ich von Kay wie von einer beinahe unfehlbaren, makellosen Person und Persönlichkeit. Nicht einmal die gelegentlichen nächtlichen Sauftrips, wenn ich gerade keine Zeit für Gespräche über Dämonen habe oder der anonyme Sprayerstatus in der Untergrundszene der Stadt rühren diese Perfektion an.

Im Schein von gleißend hellen, teilweise blinkenden Werbeschildern von draußen und den Lampen weit über uns an der hohen Decke wirken die beiden schier einwandfrei symetrisch angeordneten Augen mit den eigenartig moosgrün-kristallblauen Irisen noch faszinierender, als sie sonst schon waren. Jede Lichtquelle spiegelte sich darin wie in einem Spiegel, sowie auch die verzerrten Umrisse meiner selbst. Meine Faszination und komplette Aufmerksamkeit lag jetzt nicht mehr auf meiner Umgebung, sondern nur noch einzig und allein den zwei Augen, dessen Blicke sich in meine bohrten, als würden sie in meinen Schädel hineinsehen wollen. Dennoch fühlte ich mich weder schwach noch überlegen, das hatte ich bei Kay noch nie getan.

Was auch immer Kay jetzt von mir wollte, und sei es das banalste auf der Welt- Ich würde zuhören und dem Verlangten so gut es ging nachgehen. Mir geschah nichts, wenn es von Kay kam. Da war ich mir sicher.

(Written in 2018, published in 2019)


Oneshot FreiheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt