Das Ungewisse

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Irgendwas unnormales passierte gerade, ich konnte es förmlich spüren. Die kahle, spärrlich eingerichtete Wohnung, in der ich auf dem Sofa saß und auf einen alten Röhrenfernseher starrte, sah gar nicht anders aus als sonst, vermittelte auf ihre triste, trostlose Art und Weise, dass alles in Ordnung war.

Doch nach all den Jahren hatte ich gelernt, dass meine Augen das Wikipedia der Wahrnehmung waren- nicht immer eine verlässliche Informationsquelle. So wie jetzt in diesem Moment. Irgendetwas braute sich zusammen. Adrenalin schoss bereits durch meine Adern, doch ich saß weiterhin ruhig da auf dem alten, kantigen Sofa, und starrte emotionslos die Glotze an. Auf dessen Bildschirm flimmerte ein uralter Cartoon und der leise Ton von diesem erfüllte den Raum nicht mit genug Lautstärke, um die drückende Einsamkeit zu verscheuchen, die sich hier langsam breitmachte.

Außer dem gelblichen Licht der Stehlampe neben mir und dem hellen Fernseher war kein Licht in der retro-chicken Einzimmer- Altbau-Wohnung. Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken und nahm die hallenden Geräusche im Raum kaum noch wahr. Ich konzentrierte mich ganz auf das brodelnde Gefühl, dass in mir aufkam, meine Wahrnehmnung komplett in Watte packte und mich auf eine Ebene konzentrieren ließ, die ein normaler Mensch gar niemals wahrnehmen konnte.

Auf irgendeine Weise überkam es all meine Sinne, erst schleichend, leise, langsam, unauffällig, aber nach ein paar Minuten brodelte es in mir wie in einem Hexenkessel voller Gift. Ich fühlte nichts anderes als ein schwitzig-kühles Prickeln auf der Haut, hörte ein seltsam blubbernd- kochendes Geräusch, sah verschwommen und auf meiner Zunge lag dieser Geschmack, der aufkam, wenn man zu lange nichts getrunken hatte.
Noch dazu stieg mir ein beißender Geruch in die Nase, den ich mit Dunkelheit und Verderben in Verbindung brachte.

Als ein langer, schriller Piepton sich in mein Ohr schlich, mich fast in den Wahnsinn trieb und unerträglich laut wurde, wollte ich aufschreien. Ich versteifte mich, krümmte den Rücken in alle Richtungen, bis er höllisch schmerzte, verknotete die Hände krampfhaft zwischen den Knien, wand den Kopf hin und her, riss den Mund auf und ließ die Zähne wieder aufeinander donnern, kniff die Augen geplagt zu-

„Berlin"

Mit einem Mal war ich komplett ruhig. Entspannt. Konzentriert. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte.

„Moskau", sagte ich einen weiteren Städtenamen leise, emotionslos, aber völlig durchdacht.

„Los Angeles"

„Lissabon"

„Seoul"

„Kairo"

„Ankara"

„Sidney"

„Sao Paolo"

„Neu Dehli"

„Tokyo"

„Katmandu"

„Hongkong"

„Washington"

„Johannesburg"

„Mexiko-Stadt"

Auf einmal waren meine Sinne so scharf wie noch nie. Ich hörte alles um mich herum, von dem banalen Cartoon in der Glotze über die klirrenden Bierflaschen des Alkoholiker-Nachbars eine Wand weiter bis zu den Autos unter mir auf den Straßen der Stadt. Ich sah mehr als nur den gestreiften, grob gewebten Teppich vor mir. Ich sah, dass der Fernseher vor mir anfing, ein schwarz-weiß verpixeltes Bild zu zeigen, dass sich dunkler, unheilvoller Nebel auf dem Boden um mich herum ausbreitete, mir entging nichts. Der beißende Geruch, der mir anscheinend die Nase in alle chemischen Elemente zersetzen wollte, wurde stärker und legte sich auch auf meine Zunge, der Fernseher rauschte, irgendwas unangenehmes wabernte auf meiner Haut herum.

Missliche Lage. Aber ich war bei voller Aufmerksamkeit dabei und ich hatte nicht umsonst gerade die Namen von Städten rund um den Globus aufgezählt.

Ich wusste, dass ich Hilfe bekam, als sämtliche Geräusche mit einem Mal verstummten, der Nebel um mich herum auf dem Boden aufhörte, zu wabern und die Pixel in der Glotze stehenblieben. Das kaum wahrnehmbare Ticken der Uhr auf der Wand war auch nicht mehr zu hören, ihre Zeiger bewegten sich auch nicht.

Vremya hatte meinen Hilferuf also als Erster gehört. Er hatte die Zeit angehalten.

Als nächstes stiegen kleine Lichtpunkte aus dem Boden auf. Sie wurden mehr, erhellten den Raum in einem verzaubernden, entspannenden Licht und schwirrten wie Schneeflocken im Raum herum. Ich kam mir fast so vor, als würde ich in einem luziden Traum feststecken, und ich wünschte mir, es wäre einer und ich würde nie wieder aufwachen.

Prakaash hatte mir das Licht nun geschickt. Ihm folgten die Anderen „Superhelden":

Shuang legte eine fragile Eisschicht auf den alten, kaputten Fernseher und schmückte die Fenster mit Eisblumen, Bjarga ließ die Schmerzen in meinem Körper verschwinden und planzte ein warmes Gefühl in meiner Magengegend ein, dass mir ein wohliges Seufzen endlockte. Entspannt lehnte ich mich im Sofa zurück, legte den Kopf in den Nacken, verfolgte die Lichtpunkte mit den Augen und ließ die Hilfe auf mich wirken.

Yer wirkte seine Kraft auf einmal und die Wände zitterten, das leise klirren eine Wand weiter wurde daraufhin lauter und meine Lampe flackerte, aber ich brauchte sie ja sowieso nicht.
Rano setzte sich mit mir in Verbindung und verursachte ein brodelndes, spritziges Geräusch aus Richtung meiner Spüle in der Küche, denn sie ließ das Wasser verrückt spielen, Yangin ließ einzelne Lichtpartikel um mich herum entflammen und wärmte mich damit, Dabayl brachte mit einem hauchzarten Windzug meine Haare durcheinander und drängte den schwarzen Nebel am Boden um mich herum zurück an die Wände.

Die Elemente um mich herum waren nun im Einklang miteinander zeigten mir ihre Anwesenheit und Beistand, und auf mich wirkte das in Form des wohl angenehmsten Gefühls, dass ich je hatte fühlen dürfen. Von wo auch immer die Kräfte kamen, wer auch immer sie mir schickte, ich war ihnen unendlich dankbar dafür.

Sie waren nun komplett. Alle acht Menschen mit besonderen Fähigkeiten standen mir von überall auf der Welt bei, um mich vor der Dunkelheit zu beschützen. Das Element, das eigentlich nicht existierte, aber trotzdem Gestalt angenommen hatte. Die Dunkelheit war übriggeblieben, sie war der Zustand, wenn kein anderes Element an seinen Platz treten konnte. Dort, wo kein Licht, keine feurige Wärme, kein Wasser und kein eisiger Frost, keine nährende Erde, kein Zeitgefühl und keine Emotion und keine Luft, kein Wind und kein Sturm war. Da war die Dunkelheit. Sie war über die Jahre hinweg stärker geworden, war nun sogar in der Lage, dem Licht, der Zeit und der Luft zu trotzen und die zu verdrängen, hatte Gestalt angenommen und suchte mich nun in Form dieses schwarzen Nebels heim.

Ich war ihr Opfer, ich war jedes Opfer für sie wert, ich war ihr Endboss und ihre Trophäe.

In mir hatten sich alle Fähigkeiten vereint, so schwach, dass sie ihr Potential nicht entfalten konnten, aber so stark, dass die Dunkelheit sie alle übermannen und schließlich einnehmen konnte. Ich war der Schlüssel für ihre Weltherrschaft. Ich war der Schlüssel für die Herrschaft über eine Welt, die zeitlos, finster, trist und emotionslos, weder warm noch Kalt war. So eine Welt wollte die Dunkelheit schaffen und über die herrschen- Das Nichts war sein Spezialgebiet.

Seid Jahren kämpfte ich gegen sie, als einziger Angriffspunkt, die richtigen Beherrscher der Elemente war zu stark für sie und ihre Einflüsse auf die Welt und mich ließen sich nur schwerfällig beseitigen.

Es war mir nicht anders bekannt, und ich würde es auch nie anders kennenlernen.

Denn ich bin das Ungewisse.

Oneshot FreiheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt