Ein Wort zuviel

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Zwei Buchstaben.

Eine Silbe.

Ein Wort.

Eine Einwilligung.

Ein „Ja".

Ich vermeide seit dem, es zu verwenden, als Deutschlehrer habe ich bereits zahlreiche Alternativen gewusst.

Wie sehr dieses kleine Wörtchen Leben verändern konnte, war mir nie bewusst geworden, bis es mir am eigenen Leib wiederfahren war.

Mein Vorgesetzter, der Schulleiter der Schule, an der ich arbeitete, hatte mich gefragt, ob ich Abteilungsleiter hatte werden wollen.

Traumstelle.

Natürlich sag ich da Ja.

Im Endeffekt war es das Siegel auf meinen Lebenslauf. Ab hier ging es nicht mehr weiter in die Entwicklung meiner Selbst, ab hier machte ich einfach nur so weiter, wie immer, bis ich nicht mehr konnte. Und danach war ich so fertig mit dem Leben, dass ich die Freude daran längst verloren hatte.

An sich ist der Lehrerberuf ja ganz schön. Die Fächer, die ich unterrichte, halte ich für so vernünftig, dass meine Schüler daraus etwas fürs Leben mitnehmen. Ich sehe keinen Schüler besonders lange, aber trotzdem sehe ich, wie sie sich entwickeln. Jeder anders und doch alle so gleich, es ist faszinierend. Manche stechen heraus, aber der Großteil lässt sich in Kategorien einteilen, wie ihre Namen in Klassenlisten.

Leider verbietet es mir meine erhöhte Position in der Schule nun, so auf meine Schüler zu achten, wie ich es gerne würde. Viel zu oft muss ich Stunden ausfallen lassen, weil ich eine wichtige Konferenz habe, irgendwelche wichtigen Leute treffen muss oder dies und das regeln muss.

Viel zu oft komme ich spät und völlig erschöpft nach Hause, muss noch Unterricht vorbereiten, Arbeiten korrigieren und organisatorische Dinge der Schule regeln. Mein Leben besteht aus Arbeiten, ich sehe meinen Schreibtisch und meine Ordner mehr, als meine Schüler in ihrem ganzen Leben den Inhalt ihrer Schulbücher. Familienplanung kann ich vergessen, einen Partner erst recht. Ich habe keine Zeit dafür.

Es ist ein Fluch. Eine endlose Abwärtsspirale, in der ich gefangen bin.

Wenn ich mich morgens kurz vor dem aufbrechen noch einmal im Spiegel betrachte und den Schal richte oder den Cardigan anziehe, sehe ich tiefe Augenringe, eingefallene Wangen und das etwas zu feminine Aussehen meiner Selbst.

In so einer beschissenen Lage bleibt mir nur noch mein Humor.

„Du könntest dich längst heimlich rausgeschlichen haben und dich betrinken gehen können, mit dem Kiffen anfangen oder Leute anpöbeln, aber du bist hier, also wartest du, bis es klingelt.", habe ich kürzlich so ernst wie ich konnte und mit einer Menge Kunstpausen dazwischen zu einem Schüler gesagt, der früher gehen wollte. Daraufhin hatte die ganze Klasse angefangen zu lachen und hatte mir ebenfalls ein Lächeln entlockt.

Oder als ich voller Nostalgie in der letzten Stunde vor den Ferien, wo es nichts mehr zu tun gab, von Nostalgie erfüllt erzählte, was an dieser Schule in der Vergangenheit alles passiert war. Sei es der Silvesterböller, der in der Pausenhalle explodiert war oder der einfache Trick von einem Eimer über der angelehnten Tür, der einen nicht ganz so beliebten Kollegen ungewollt geduscht hatte. Es hatte sich schön angefühlt, all das mit den Schülern zu teilen. Ich warte mir trotzdem meine Distanz zu ihnen. Zwar kein Sicherheitsabstand, keine Respektfloskeln, aber eine Wortwahl und ein Auftreten, dass die Schüler respektvolle Distanz halten ließ. Egal wie sehr sie mich vielleicht einmal hassten, weil ich für meine strenge Benotung und meine schweren Klausuren bekannt war.

Die Distanz, die ich zu den Schülern wahre, ist zu meiner eigenen Sicherheit. Ich vergesse sie schnell wieder, baue keine Freundschaftlichen Verhältnisse auf und trauere niemandem hinterher, vermisse keinen.
Hin und wieder bleibt mir trotzdem jemand im Gedächnis. Zum Beispiel ein Schüler, der unterschwellig schreit: „Ich bin ein Künstler, ich komme mit diesem Schulsystem nicht klar!", wenn er den Mund aufmacht und seine für einen achtzehnjährigen recht hohe Stimme an meine Ohren kommt. Er kommt nach den Stunden, die er bei mir hat, fast immer zu mir und hinterfragt das, was wir in der Stunde durchgenommen haben, er führt sogar ganze interlektuelle Gespräche mit mir, ohne dabei den Eindruck zu machen, es würde ihn langweilen. Er hatte Glück, dass dafür nur eine Pause von mir draufging, die ich gerade so entbehren konnte. Es bereitete mir sogar Freude, solche Gespräche führen zu können, den meine Kollegen und Menschen um mich herum waren zu fokussiert auf sich selbst, um mehr als nur über das vorbereiten von Klausuren, Organisatorischem Kram oder privaten Erlebnissen erzählen zu können.

Meine Güte, die Kollegin, die wegen zwei kleinen Kindern nur halbtags arbeitete, beneidete ich manchmal ein bisschen zu sehr.

Egal. Der Schüler, der immer wieder in meinem Gedächnis auftauchte, ließ es sich nicht anmerken, aber hatte wahrscheinlich längst begriffen, dass ich mein Leben bereits vergeudet hatte und ich langsam mich selbst verlor. Er machte nicht einmal Andeutungen, aber er war nach wie vor ein Künstler und das ist fast eine andere Spezies. Künstler bemerken und hinterfragen Dinge, die ein normaler Mensch nie beachten würde, auch wenn man es ihnen direkt vor die Nase halten würde. Der Schüler ging, seinen Erzählungen nach zumindest, nicht einmal einem kreativen Hobby nach, wenn man von den durchaus beindruckenden Kritzeleien in seinen Unterlagen absah. Ich wollte ihm raten, er sollte es tun und damit eine Karriere beginnen, die ihn erfüllte, aber es ergibt sich nie ein passender Moment, in dem ich ihm das mit der nötigen Distanz vermitteln kann.

Doch der sechste Sinn des Schülers, der sechste Sinn, der ihn als Künstler markierte, warf mein strukturiertes Denken sehr bald schon wieder durcheinander. Ich war es gewöhnt, Alltagssituationen so genau einschätzen zu können, dass ich mich bereits auf dessen Ende vorbereiten konnte. Doch dieser Schüler, dieser verdammte Künstler, war nicht vorrausehbar und es machte mir beinahe Angst.

Es passierte, als ich, schon im Begriff, die Schule zu verlassen, von meinem Chef angesprochen wurde und gefragt wurde, ob ich die Organisation für den anstehenden Tag der offenen Tür komplett übernehmen konnte, weil er keine Zeit dafür hatte. Eigentlich war mein Terminkalender für die nächsten zwei Monate auch schon platzend voll, aber ehe ich es realisieren konnte, hatte ich schon mit „Ja" geantwortet und der Kollege war dankend davon gerauscht. Für ein paar Sekunden stand ich nun da, seufzte, versuchte mir einzureden, dass ich das schon irgendwie auf die Reihe kriegen würde.

„Das ist das erste Mal, dass sie dieses Wort benutzen, und auch nur, weil sie keine Zeit hatten, nach einer Alternative zu suchen.", hörte ich jenen Schüler dann auf einmal die verlassene Stille der Pausenhalle durchbrechen. Verwundert schaute ich zu meiner Rechten und sah ihn dort an der Wand lehnen, den Ranzen zu seinen Füßen, ein Kopfhörer in seinem mir abgewanten Ohr. Er wartete wahrscheinlich auf den Bus.

Freudlos schmunzelte ich. „Wenn ich dir darauf eine ehrliche Antwort geben würde", sagte ich ruhig, „würdest du sie doch schon längst wissen, hab ich Recht?"

Keineswegs überrascht von meinen Worten nickte der Schüler. „Und sie kennen meine Einstellung dazu", erwiderte er mit einem Hauch Spott in der Stimme. Klar, er war Künstler, er fragte sich, warum ich mich nicht gegen diese Bürde von einem trostlosen Leben, in dem ich mich selbst verlieren würde, wehrte.

Ich brauchte über eine Antwort gar nicht mal nachdenken, denn ich hatte sie schon seid Wochen im Kopf. Die Situation war endlich die Richtige dafür.

Also sagte ich dem Schüler: „Dann tu dir und mir den Gefallen, mach es besser als ich und mach was aus dir und deinen Talenten. Du bist ein Künstler, ein geplantes Leben und unbedachte, Einsilbig-zweibuchstabige Antworten auf die falschen Fragen ruiniert dich schneller als jeden Anderen."

Damit setzte ich mich in Bewegung und ließ ihn stehen, ging dem Leben nach, zu dem ich mich selber verdammt hatte, und hoffte, dass dieser Schüler nicht aus Versehen in meine Fußstapfen trat.


(Written and published in 2019)


Oneshot FreiheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt