Drag me out of here

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Als erstes ist er mir gar nicht aufgefallen. Er war unscheinbar, unauffällig, normal. So wie alle anderen auch. Und seine Eltern, mit denen er unterwegs war, waren noch viel unscheinbarer, unauffälliger und normaler.

Und unscheinbaren, unauffälligen, normalen schenkt man nun mal keine Aufmerksamkeit. Sie gehen in der Masse unter, sie sind einfach nur ein kleiner Teil des großen Ganzen. Es gibt so viele von ihnen, das sie eine Norm setzten, aus der manche herausfielen und dann dafür beachtet wurden.

Ob das jetzt Segen oder Fluch ist, hängt von der Person ab.

Er ist mir erst aufgefallen, als seine stillen Wünsche ein klein wenig zum Vorschein kamen.

In diesem Einkaufszentrum hingen überall Plakate, Plakate, die für den Auftritt einer Drag queen warben. Drag Queens fielen aus der Norm. Sie waren scheinbar, auffällig, unnormal, alles das, was man in der Norm mit aller Kraft versuchte, nicht zu sein.

Und er hat eines dieser Plakate gesehen, betrachtet, angestarrt, mit einer solchen stillen Bewunderung des Schönheitsideals, dass dieser Mann in Frauenkleidern für ihn war, dass ich ihm quasi ansah, wie sehr er danach strebte, mehr darüber zu erfahren. Nicht nur das, er wollte selbst so sein. Diese Drag Queen war das Schönheitsideal, dass er sich an sich selbst erfüllt wünschte.

Es war das Verlangen, anders zu sein, dass mich ihn beachten ließ.

Er hatte diesem Verlangen nie nachgeben können, die Gesellschaft ließ es nicht zu. Ausdrücken taten das seine Eltern, die nach ihm riefen und ihm sagten, er sollte sich nicht mit solchem unnormalen Humbug beschäftigen. Seine Freunde und Verwanten würden sonst schlecht über ihn denken, sagten sie ihm.

Er nahm es hin und trottete ihnen nach, ergeben nickend. Sein Blick wanderte dennoch immer wieder für Bruchteile von Sekunden zu den Plakaten, still und heimlich, als würde er Bissen der Frucht des verbotenen Baumes kosten.

Die Drag Queen, sein Schönheitsideal, sie war nicht die Norm. Und, so wurde es ihm von Kindesbeinen an eingetrichtert, alles außerhalb der Norm, alles scheinbare, auffällige, unnormale, war schlecht. Einfluss solcher Dinge war schlecht für einen Menschen, und alle, die sich damit beschäftigten, waren schlecht.

Ich sah, wie er die Reklame vor einer Drogerie ansah, betrachtete, verurteilte.

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Voller Verachtung. Sein Blick war voller verbitterter Verachtung. Verachtung, die ihn dazu bringen wollte, sein halb verdautes Mittagessen auf der Reklame und auf den Menschen, die sie gemacht hatten, verteilen wollte.

Liebe dich selbst noch mehr am Arsch, dachte er, diese Werbung ist so falsch und oberflächlich wie die gesamte verdorbene Gesellschaft, in der er leider Gottes lebte.

Sein Blick verriet es mir alles, der ganze Hass, den er gegen seine ganze, aufgezwungene Welt hegte, sprang nur mir ins Auge, nur ich erkannte es.

Es erschien, wie die eine verbogene Stange vom goldenen Käfig, durch die all die Unzufriedenheit, all das Leid, das in ihm herrschte, entkommen konnte.

Der Junge, der keine Change hatte, sich selbst auszudrücken, keine Möglichkeit hatte zu zeigen, wer er war und was er liebte, war stellvertretend ein Ventil für viele seinesgleichen, die in der Norm brutal ertränkt wurden, weil ihr Charakter, der nicht anders konnte, als unnormal zu sein, von mangelndem Selbstbewusstsein, Mutlosigkeit und Angst in die Norm gedrückt wurde.

Ich sah dem Jungen, der mir, egal wie weit ich den Blick nun von ihm abwich, nun immer wieder ins Auge fiel, all das an.

Oder hatte es ihm angesehen.

Ich ging zu ihm hin, wie er, zufällig getrennt von seinen Eltern, unauffällig in einem Klamottengeschäft eines der Plakate mit der Drag Queen darauf beneidend anstarrte, und fragte: „Du willst auch so sein, nicht wahr?"

Er sah auf, erschrocken, ertappt, von plötzlicher Angst, entdeckt worden zu sein, eingefroren, und sah mich an. Er sah mein Erscheinungsbild, meine Kleidung, meine Frisur, er nahm meine Art zu sprechen wahr.

Meine Erscheinung entspannte ihn wieder, zumindest ein bisschen. Sie war nicht unscheinbar, unauffällig, sie war nicht normal.

Und das beruhigte ihn.

Fast, als würde es ihm unkontrolliert, von seinen Wünschen gesteuert, aus dem Mund herausrutschen, sagte er niedergeschlagen: „Ich würde alles dafür geben."

In seinen Worten, die eigentlich nur eine einfache Metapher war, steckte so viel Wahrheit, wie ich noch nie in denen Irgendwemst gehört hatte. Er hasse sein Leben, dieses durchgeplante, langweilige, genormte Leben, das ihm seinen Charakter nicht duldete. Es war alles für ihn, weil er nichts anderes, nichts Besonderes, nichts Ungewöhnliches, nichts unnormales hatte, dass es sonst für ihn sein könnte, er durfte es nicht. Die Norm erlaubte nichts Besonderes, nichts Ungewöhnliches, es war schlecht.

Er würde sein Leben für ein Besonderes geben. Aber er konnte es nicht, so sehr er doch wollte.

Obwohl, ich konnte es ihm geben, und ich hielt ihm anbietend die Hand hin.

Und jetzt, in diesem Moment, steht er vor mir im Spiegel, trägt ein Kleid, eine langhaarige, voluminöse Perücke, lange, leise rasselnde Ohrringe, hohe Schuhe und Make-up, dass seine Augen schwarz und pink betont und vergrößert. Er sieht so schön weiblich aus, das Kleid umarmt seine dürre Taille und seine schmalen Schultern hervorragend, eine pompöse, falsche Goldkette und ebenso pompöse, falsche Wimpern runden seine neue Erscheinung ab und lassen ihn so scheinbar, auffällig und unnormal wirken wie er es noch nie in seinem Leben gewesen war.

Und, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, lächelt, nein strahlt, er glücklich. Sein Schönheitsideal, dass er immer nur still und heimlich wie etwas verbotenes beneidend bewundern durfte, ist nun dort, wo er es trotz aufgezwungener Norm haben will-

Auf ihm selbst.

Und es hat noch nie schöner ausgesehen.



(Written and published in 2019)

Oneshot FreiheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt