Peter Pan

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Hey, es ist sechs Uhr. Geh nach Hause, du musst mich verlassen.

Ich muss dich verlassen, bevor der Alarm mich aus dem Schlaf reißt. Es fällt mir unheimlich schwer, aber ich weiß auch, dass es dich nicht interessiert, was ich fühle. Du musst mir nichts vormachen.

Weißt du noch, damals, als es nur uns Zwei gab? Das war eine schöne Zeit, nicht wahr? Du und ich, in unserer Bubble, abgeschnitten vom Rest der Welt. Wir beide so naiv, so sorgenlos, so voller Genuss am Leben... Doch dann warst du auf einmal nicht mehr da. Du saßt neben mir, aber du warst weg. Wir taten dieselben Dinge wie immer, aber du warst nicht dabei. Ich habe dir Sachen erzählt, Fragen gestellt, aber du hast mir nicht zugehört, obgleich du mir geantwortet hast. Ich hatte mich gerade an dich gewöhnt und jede Sekunde genossen. Und irgendwann saßt du dann nicht mehr neben mir, aber den Übergang habe ich erst spät gemerkt. Geistig warst du schon so lange woanders gewesen.

Und jetzt ist nichts mehr von uns übrig. Die Leere um mich herum und in meinem Herzen wirkt so vertraut, wie für dich reserviert, als würdest du wiederkommen. Die Wärme, die du mir einst schenktest, ist immer noch irgendwo in meiner Wahrnehmung und lullt mich ein. Du kommst aber nicht wieder, das weiß ich. Du lässt ein Chaos zurück und fühlst selbst keine Reue dabei, kein Mitleid, nichts.

Ich vermisse dich, weißt du? Ja, ich bin mir sicher, dass du es weißt, ich sage es dir ständig. Aber vielleicht ist es ja wie damals, als du langsam absentiert bist, und mir kein Gehör schenken konntest. Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Warum du auf einmal- verzeih, allgemach, verschwunden bist, kann ich mir nicht erklären.

Aber ich weiß, wo ich dich sehen kann. Jede Nacht, in meinen Träumen. In denen ist alles so wie früher. Ich sehe dich, du bist bei mir, und das mit allen Sinnen und Körperteilen. Du hörst mir zu, wir führen ewig lange Gespräche, ich bewundere deine hübsche Erscheinung, wir haben eine schöne Zeit. Wir sehen uns an, Stundenlang, ohne ein Wort, das Schweigen schön, die Augen wach, die Blicke verbunden.

Bis mein Wecker klingelt. Und er klingelt gleich, also geh. Es ist schwer für mich, dich gehen zu lassen, obwohl du dich wahrscheinlich freust, mich los zu sein. Du wirst bestimmt auch nicht mit der selben Freude wie ich an die nächste Zusammenkunft denken, im nächsten Traum.

Bestimmt glaubst du, nach einer Weile werde ich mein Interesse an dir verlieren, ich werde dich vergessen, aber für mich ist es, als würde ich den ganzen Tag über, jede Minute ohne Dich, die Luft anhalten, trotzig und verzweifelt wie das kleine Kind, das ich bin. Kaum bist du da, kann ich erleichtert aufatmen.

Warum kann ich die schöne Zeit von damals nicht einfach wiederhaben?

Zeit ist unser Feind, denn sie rennt uns davon. Gleich ist sechs Uhr.

Lass uns doch im Schrank verstecken, wir Zwei zusammen, zwischen meinen Klamotten. Oder unter meinem Bett, neben der Familie Staubmaus, ich bin sicher, da ist noch Platz für uns Zwei.

Da sind wir sicher vor der Zeit. Lass uns dort vor der Zeit verstecken. Da kann unsere Bubble existieren, nur du und ich, da existiert keine Zeit, die uns davonlaufen kann.

Also warum verstecken wir uns nicht im Schrank?

Warum verstecken wir uns nicht unterm Bett?

Warum verstecken wir uns nicht vor der Zeit?

Achja, ich weiß, weil wir's nicht getan haben, als die Zeit noch da war. Jetzt ist sie weg, schon lange, und ich klammere mich an eine Wahnvorstellung, aus der du dich nicht entreißen kannst.

Komm zurück...

Bitte komm zurück...

Ich brauch dich hier...

Du fehlst, komm zurück...

Hier ist es so leer...

Ich weiß nicht mehr wer ich bin. Bin ich jemand, der die große Liebe verloren hat, bin ich ein kleines Kind, dessen Vorstellungen von seinem Kindheitshelden ruiniert wurden, bin ich ein Schitzophrener, der sich mit einem Dämonen angefreundet hat?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass du wiederkommen sollst, denn du fehlst mir.

Written and published in 2019


Oneshot FreiheitWhere stories live. Discover now