Mycroft POV

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Ich war froh, die Sache mit Greg beendet zu haben.
Zumindest redete ich mir das ein.
Tatsächlich aber war ich am Weihnachtsmorgen aufgewacht und zur Bakerstreet gefahren.
Ich musste ihn einfach sehen.
Doch kurz bevor ich Sherlock's Wohnung erreichte, wurde mir bewusst, wie riskant und bescheuert diese Idee war.
Also war ich an der 221b vorbeigefahren und hatte törichterweise versucht, schnell einen Blick auf Greg zu erhaschen - was mir natürliche nicht gelang.
Auch die sowohl sinnlose als auch närrische Idee, ihm per Handy frohe Weihnachten zu wünschen, hatte ich mir schnell wieder aus dem Kopf geschlagen.
Nun saß ich schon seit etwa einer Stunde in dem dunkelbraunen Ledersessel und starrte gedankenverloren ins Kaminfeuer.
Wie hatte dieser Mann es nur geschafft, ständig in meinen Gedanken aufzutauchen und mich dazu zu bringen, mich mit ihm zu verabreden?
Und wieso tat der Gedanke, ihn nicht wiederzusehen, so verdammt weh?
Wieso verfolgte mich ständig das Bild von diesem doch eigentlich so bedeutungslosen Kuss?
Ich wusste, dass die Gründ, den Kontakt zu ihm abzubrechen, nämlich ihn das mit seiner Frau selbst regeln zu lassen und ihm keine falschen Hoffnungen auf eine Beziehung zu machen, eigentlich bloß Ausreden waren.
Denn wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre, wüsste ich, dass dieser Mann mir eben doch ziemlich viel bedeutete und ich ihn mit jedem Tag mehr vermisste.
Und ich würde zugeben, dass ich bloß Angst davor hatte, Menschen so nah an mich ranzulassen und somit einen Teil der Kontrolle über mein Leben abzugeben.
Kontrollfreak, hörte ich die Stimme meines Bruders in meinem Kopf und schmunzelte. Ja, das war ich wohl.
Und ein Heuchler.
Ein Klingeln riss mich aus den Gedanken und ich brauchte einige Sekunden, um es meinem Handy zuordnen zu können.
Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.
Na wenn das kein Zufall war!
"Großer Gott! Wir werden doch jetzt nicht anfangen uns Weihnachten anzurufen, oder?
Hat man ein neues Gesetz erlassen?", fragte ich ironisch.
"Ihr werdet, glaube ich, heute Nacht Irene Adler finden", erklärte Sherlock den Grund seines Anrufs.
"Wir wissen bereits, wo sie ist.", unterbrach ich ihn ungeduldig. "Du warst ja so nett daraufhinzuweisen, dass das nicht von Belang ist."
"Nein, ich meine ihr werdet sie tot auffinden.", sagte er bitter und bevor ich etwas antworten konnte, ertönte schon ein regelmäßiges Tuten, welches mir signalisierte, dass mein Bruder bereits aufgelegt hatte.
Während mein Blick aus dem Fenster wanderte und ich die Schneeflocken beobachtete, wie sie im Wind tanzten, begann ich mir ernsthafte Sorgen um Sherlock zu machen.
Sollte Irene Adler wirklich tot sein, würde das meinem kleinen Bruder wohl sehr nahe gehen.

Es war mittlerweile dunkel, als ich mich auf den Weg zu Sherlock's 'zweitem Zuhause' machte.
Sherlock wartete bereits ungeduldig im Flur des Leichenschauhauses auf mich.
"Das hat ja lange gedauert, Bruderherz", merkte er an und betrat den großen weißen Raum.
Ich folgte ihm und schloss die Tür hinter mir.
Nachdem Molly uns erklärt hatte, dass Ms. Adlers Gesicht nicht mehr gut zu erkennen sei, forderte Sherlock sie auf, den gesamten Leichnahm aufzudecken.
Nüchtern stellte er fest, dass es sich eindeutig um Irene Adler handelte und verließ den Raum.
"Wie konnte Sherlock sie erkennen an ihrem... außer an ihrem Gesicht?", fragte Molly verzweifelt, als ich ihm gerade folgen wollte.
Ich schenkte ihr bloß ein mitleidiges Lächeln.
Die Arme hatte wohl immer noch starke Gefühle für Sherlock.
Während Sherlock aus dem Fenster starrte, holte ich eine Schachtel Zigaretten aus meiner Manteltasche und reichte ihm eine.
"Nur die eine"
Skeptisch blickte er mich an.
"Warum?"
Ja, warum eigentlich?
Weil ich mir riesige Sorgen um ihn machte und testen wollte, wie nah ihm der Tod der Domina ging?
Weil ich mich verantwortlich für ihn fühlte und einfach nur wollte, dass dieser sorgenvolle Blick aus seinen Augen verschwand?
Weil ich die Gelegenheit nutzen, und ihm von Greg erzählen könnte?
Weil ich nicht so taff war, wie ich es alle glauben ließ?
Ich sprach jedoch keinen dieser Gedanken aus. Stattdessen sagte ich:
"Frohe Weihnachten"
Sherlock nahm die Zigarette an und fragte nach einigen Sekunden:
"In Gebäuden rauchen... gab's da nicht so ein Gesetz oder so was?"
"Wir sind in einem Leichenschauhaus; da richtet man keinen allzu großen Schaden an", erwiderte ich.
"Woher wusstest du, dass sie tot ist?"
Sherlock nahm einen weiteren Zug.
"Sie hatte etwas in ihrem Besitz, von dem, wie sie sagte, ihr Leben abhinge und sie hatte beschlossen, sich davon zu trennen"
Ich nickte verstehend.
"Wo ist dieses etwas jetzt?"
Sherlock ignorierte meine Frage jedoch und blickte stattdessen den Gang hinunter zu einigen Ärzten.
"Sieh sie dir nur an. Es geht Ihnen allen so unglaublich nah.
Fragst du dich je, ob irgendwas mit uns nicht stimmt?"
Das hatte ich tatsächlich schon einige Male, doch ich war zu dem Schluss gekommen, dass es doch letztendlich bedeutungslos war.
"Alles Leben endet. Alle Herzen werden gebrochen."
Für eine kurze Sekunde tauchte das Bild von Greg, wie er mich am Abend unseres Treffens angelächelt hatte, vor meinen Augen auf.
Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, als ich frustriert fortfuhr:
"Mitgefühl bringt keinen Vorteil, Sherlock"
Fast hätte ich es mir selbst geglaubt.
Gefühlen waren schließlich bloß eine Last für die Menschen und trübten unser Urteilsvermögen. Das war es, was ich meinem kleinen Bruder immer gepredigt hatte.
Und doch war ich eben diesen Gefühlen gnadenlos verfallen.

Mystrade - One Call Away (Sherlock)Where stories live. Discover now