"Ans andere Ende der Welt" - Teil 1

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Der Strand hätte von einer dieser Postkarten stammen können, mit denen man seine Freunde zuhause neidisch machte. Sand, fein wie Babypuder, glitzerte im Mondlicht. Hinter mir raschelte eine Palme in der lauwarmen Nachtluft. Ich stand barfuß am Rand des Wassers und wartete auf die Flut, wartete darauf, dass die Wellen den Sand unter meinen Füßen wegzogen und mich tiefer eingruben. Ich liebte dieses Spiel, es erinnerte mich an die Sommer mit Tante Anne an der Ostsee.

Das Wasser kribbelte an meinen Zehen. Lachend legte ich den Kopf in den Nacken und wurde von einem Sternenhimmel eingefangen, der sich klar und glitzernd am Horizont mit dem Meer vereinte. Ich machte einen Schritt nach vorn, und noch einen, bis ich bis zur Hüfte im Wasser stand. Der Wind nahm zu und schmeckte nach Salz. Ich atmete tief ein. Das war es, das war Glückseligkeit. Meine Finger zogen durch die Wellen, die mich nun in ihrem stetigen Rhythmus hin und her wogten. Ihr Sog war stark und ich paddelte mit den Füßen, um den Kopf über Wasser zu halten. Lächelnd drehte ich mich auf den Rücken. Der Sternenhimmel war verschwunden. Dunkle Wolken zogen über mich hinweg. Ich begriff, was der Wind mir hatte sagen wollen. Ein Sturm zog auf. Mein Blick suchte den Strand. Doch vor mir lag nichts als Dunkelheit.

Mein Puls beschleunigte sich, ich war sicher, dort, nur wenige Meter vor mir, war das rettende Ufer. Entschlossen schwamm ich darauf zu. Schnell fand ich meinen Rhythmus, meine Hände gruben sich durch das Wasser und meine Beine strampelten gegen die Kraft der Wellen an. Doch immer wenn ich glaubte, dem Meer einen Meter abgerungen zu haben, sog mich die nächste Woge wieder zurück. Weiter und weiter, immer tiefer in die Nacht. Meine Arme wurden schwer, meine Finger verkrampften sich, als ich gegen die Wassermassen ankämpfte. Die nächste Welle überrollte mich und ich kam prustend wieder an die Oberfläche. Das Salz brannte in meinen Lungen, mein Puls rauschte in meinen Ohren. Ich würde hier sterben, das Meer würde mich verschlingen.

Was würde Tante Anne sagen, wenn sie meinen leblosen Körper im Wasser treibend fanden? Und Izzie? Was würden sie beide denken, wenn ich niemals zurückkehrte?

Verzweifelt gruben sich meine Arme durch die Fluten vor mir, doch ich blieb, wo ich war. Ein kleiner Korken, der unbeholfen in dem Getose der Wellen auf und ab hüpfte. Etwas griff nach mir, packte mich fest an der Schulter.

»Miss? Miss, please! Can you hear me?«

Ich riss die Augen auf und schnappte nach Luft.

»Miss, please we will be landing soon and our other guests have complained about the noise!«, sagte eine in blau gewandte Frau.

Noise? Was zur Hölle? Neben mir räusperte sich jemand.

»Mia meine Liebe, ich glaube, du hast schlecht geträumt«, entgegnete eine ältere Dame mit einer roten Lesebrille auf der Nase. An die adrette Frau im blauen Kleid, die ich nun als Flugbegleiterin erkannte, fügte sie hinzu: »Just a nightmare you know.«

Die Flugbegleiterin, auf deren Namensschild der Name Candice stand, stutze und hielt einen Moment inne, als habe sie Mühe den unüberhörbar deutschen Akzent meiner Sitznachbarin zu verstehen.

»Sorry, I'm fine«, erwiderte ich auf eine deutliche Aussprache bemüht. Candice nickte und schenkte mir ein Lächeln ohne Augenkontakt.

»Very well«, zwitscherte sie mit der gleichen künstlichen Art, mit der Sie alle Fluggäste zu bedenken schien, »Please fasten your seatbelt and turn off your devices, we will land shortly.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, war Candice eine Reihe weiter gerückt und schenkte meinen Vordermann ihr weißes Strahlelächeln, mit dem sie in einem Schönheitswettbewerb hätte punkten können. Vielleicht war sie ja Miss Stewardess oder sowas? Passen würde es.

Under water - Das Einmaleins für Meerjungfrauen Band 1Where stories live. Discover now