ᴘᴏɪsᴏɴᴇᴅ

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Früher, wenn ich nicht einschlafen konnte und meine Mutter es langsam leid wurde, mir etwas zu trinken zu geben oder mich auf die Toilette zu schicken, setzte sie sich an meine Bettkante und sang mir ein Lied.
Solange, bis ich eingeschlafen war.

Ich kannte zwar den Text des Liedes nicht mehr, aber die Melodie hatte sich so sehr in mein Gehirn eingebrannt, dass ich es heute sogar noch manchmal vor mich hin summte, wenn ich in Gedanken war und nicht darauf achtete, was um mich herum passierte. Und das kam ziemlich oft vor.

Mit dieser Melodie verband ich also schon lange nicht mehr, dass ich nicht schlafen konnte, sondern einfach nur Momente, in denen ich tagträumte und erst wahrnahm, dass ich es tat, wenn Jin mir komische Blicke zuwarf und nach dem Namen des Liedes fragte.

Umso größer war der Schock, als ich eben diese Melodie durch die dicke Wand des Schlafes hörte.
Ich fuhr so ruckartig hoch, dass die Schmerzen meinen Körper augenblicklich überrollten. Dieses Mal fühlte sich das Stechen allerdings eher so an, als hätte ich einen Kaktus gegessen.
Rein rhetorischer Vergleich. Ich hatte noch nie...
Mein Gedankengang stoppte.

Das Zimmer war dunkel, es war Nacht.
Aber trotzdem kam es mir so vor, als ob...
Mein Blick fiel auf das Fenster, an dem ich die Silhouette eines jungen, schmächtigen Mannes ausmachen konnte, der auf die nächtlich erleuchteten Straßen Busans starrte und... eben diese Melodie leise vor sich hin summte?

Hörte man nicht genau hin, war es mehr ein leises Brummen, als irgendetwas anderes, sobald ich mich jedoch mehr darauf konzentrierte konnte ich eben die Melodie erkennen, die meine Mutter mir vor so vielen Jahren vorgesungen hatte.

Verwirrt fuhr ich mir einmal durch die Haare, die komplett verschwitzt an meiner Stirn klebten. Etwas angeekelt sah ich auf meine Hand und wischte sie an der relativ dünnen Decke ab, die ordentlich über mir ausgebreitet war.
Erst dann fiel mir auf, dass ich halbnackt war.

„Yoongi?"
Die Silhouette drehte sich zu mir und ich sah trotz der Dunkelheit das Funkeln in den Augen des Blonden.

„Du bist wach", stellte er scharfsinnigerweise fest, woraufhin mir, wie auf den Schlag auf einmal einfiel, was die letzten Stunden passiert sein musste.

Wahrscheinlich schoss mir sofort die Hitze in den dröhnenden Kopf, während ich hektisch versuchte meinen Atem zu testen und die Decke über meinen entblößten Oberkörper zu ziehen. Dabei fiel mir auch erst auf, dass ich meine Jogginghose nicht mehr anhatte und kalte, nasse Handtücher über meinen Beinen lagen.

„Was hast du mit mir gemacht?!", entfuhr es mir schockiert, was Yoongi ein raues Lachen entweichen ließ und er sich vom Fenster abwandte, um zu mir herüber zu laufen und auf die Bettkante zu setzen. Automatisch wich ich ein bisschen von ihm zurück.

„Ich hatte mir wirklich andere Umstände gewünscht, in denen ich dich das erste Mal halbnackt sehen würde, aber das war ein Notfall", begann er leicht lächelnd und wollte gerade seine Hand auf meine Stirn legen, wovon ich zum Glück rechtzeitig zurückweichen konnte. Warum zum Teufel sagte er sowas?

„Das T-Shirt hab ich dir ausgezogen, weil es vollkommen verschwitzt war und die Wickel an deinen Beinen sollten das Fieber senken. Ich weiß nicht wirklich wie hoch es ist, da du Trottel ja kein Thermometer hast, aber sicher ist sicher... tut mir Leid, falls dich das Ganze jetzt irgendwie gestört hat, ich wollte dir aber sowieso schon die ganze Zeit sagen, dass..."

Mein Blick stoppte ihn.
Die letzten Phase in der ich wach gewesen war, fiel mir wieder ein und mit ihr auch leider die Szene in der ich kotzend über der Kloschüssel gehangen hatte.
Mit seiner Hand auf meinem Rücken und dem bedeutungsvollen Schweigen, was in der Luft hing, als ich mich wieder beruhigt hatte.

Augenblicklich wurden meine Wangen noch heißer und ich zog die Decke bis zu meinem Kinn, ehe ich mich langsam aufsetzte. Bevor ich jedoch noch irgendetwas sagen konnte, hatte Yoongi schon reagiert und drückte mich an den Schultern wieder zurück in die Matratze.

„Ich würde liegenbleiben an deiner Stelle... die kalten Handtücher senken zwar das Fieber, aber fahren auch deinen Kreislauf runter... und ich hab keinen Eimer gefunden, in den du dann rein kotzen kannst", erklärte er und verharrte solange über mir, bis ihm wohl aufging, dass mein mürrischer Blick nicht wirklich dafür sprach, dass es mir gefiel, wie er mich anfasste. Dass er mich überhaupt anfasste.
Auch wenn ich schon ein wenig beeindruckt war, dass er sich so um mich gekümmert hatte.

„Jedenfalls..." Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf, bevor er wieder aufstand und zum Fenster rüberlief. „...glaub ich, dass du dir den Magen verdorben hast und mit dem schlechtesten Immunsystem der Welt ausgestattet bist. Was nebenbei bemerkt wirklich keine gute Sache ist, wenn du in so einer Gegend lebst."

„Mit was denn bitte schön?", hakte ich nach und dachte an die beiden Äpfel und das Sandwich, die ich gestern über den Tag verteilt gegessen hatte.
Bis mir auf einmal etwas einfiel, woran ich bis eben nicht einmal mit der letzten Ecke meines Gehirns gedacht hatte.

„Du hast mich vergiftet", murmelte ich, konnte mir allerdings kein Grinsen verkneifen, als Yoongi sich entsetzt wieder zu mir umdrehte.
In seinen Augen die spiegelnde Erkenntnis, bis er nach ein paar Sekunden ebenfalls zu grinsen anfing und das Gefühl der Euphorie verflog und den Bauchschmerzen wich.

„Jap... du hast zu viel geredet und ich werde gerne mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen, um mich um kotzende Menschen zu kümmern", erklärte er mir mit dieser seltsamen Mischung aus Ironie und Sorge in der Stimme. Daraufhin fiel ihm sein Lächeln jedoch wieder aus dem Gesicht und er sprach erneut in der Tonlage, die ich von ihm kannte.
Ausdruckslos, fast gleichgültig.
„Aber ich denke, es war der Tunfisch. Der Sushi-Typ hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich das Zeug nicht mal im Traum anrühren würde."

Eine Weile herrschte wieder Stille zwischen uns, in der ich meinem schweren Atem lauschte und versuchte das Pochen meines Schädels irgendwie zu ignorieren. Was ziemlich schwer war, wenn es das einzige war, was mir durch den Kopf ging. Wortwörtlich.
Ich konnte nicht einmal daran denken, dass der Mann der vor mir stand und sich um mich gekümmert hatte, bis vor ein paar Stunden noch das größte Arschgesicht war, was ich je kennenlernen durfte.

„Das... das Lied."
„Was?"

Es brauchte ein paar Sekunden bis bei mir ankam, was genau ich gerade gesagt hatte, ebenso wie es ein paar Sekunden brauchte, bis bei mir ankam, was ich noch sagen wollte.

„Das was du vorhin gesummt hast... wenn man es Summen nennen kann."
Meine Stimme verschwand mit jeder Silbe mehr. Ich machte eine kurze Pause um meine Kehle noch einmal etwas zu befeuchten.
„Woher kennst du es?"

Langsam ließ ich mich zurück in die Kissen sinken, sodass mir Yoongi's leichtes Lächeln entging und der Schlaf sofort wieder nach mir griff.
Die letzten Worte des Blonden entgingen mir allerdings nicht.

„Mein Bruder hat es mir früher immer vorgesungen, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil ich mir zu viele Gedanken über etwas gemacht hab... und du summst es ab und zu, wenn du träumst."














Jemand schenke mir Motivation...

Carry On  ⇢  YoonminWhere stories live. Discover now