22. Kapitel

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Die Angst des Albtraums sitzt mir immer noch im Nacken, als ich in Tobias' Armen aufwache. Es ist erstaunlich, wie schnell er mich beruhigt haben muss, dass ich sogar gleich darauf wieder eingeschlafen bin und noch immer mit dem Gesicht auf seiner Brust liege. Deswegen kann ich nur hören, und nicht sehen, wie jemand aufsteht. Nachdem die Person sich in Bewegung gesetzt hat, kann man noch weiteres Rascheln hören. Wahrscheinlich stützen sich einige nach oben, um zu sehen, wer aufgestanden ist. Scheinbar bin ich nicht die Erste die wach ist.

Tobias zieht mich im Schlaf ein wenig enger an sich. Da ich ihn nicht wecken will, bleibe ich weiter ruhig liegen. Die Person, die noch immer steht, kommt jetzt zu Tobias und mir herüber. Meine Alarmglocken schrillen. «Also doch ein Flittchen, wie ich es geahnt habe», sagt eine bittersüße Stimme hinter mir, die ich ohne hinzuschauen erkenne. Es ist Marya. Vorsichtig drehe ich mich in Tobias Armen um, damit er nicht aufwacht und ich Mayra ansehen kann. «Wie kommst du darauf?» Meine Stimme klingt heißer. «Es ist einfach so... Habe ich da etwa einen wunden Punkt erwischt, kleine Schlampe?» «Hör zu, du kannst sagen was du willst, aber eine Schlampe oder was auch immer bin ich mit Sicherheit nicht. Wenn du mich kennen würdest, würdest du mich auch nicht so bezeichnen», zische ich. Dabei versuche ich so ruhig wie möglich zu bleiben, aber in meinem Inneren brodelt ist. Ich würde es gegenüber von Marya nie zugeben, aber ihre Worte verletzen mich. Marya kenn mich nicht. Sie weiß nicht, was mir die Soldaten oder die Jungen im Heim angetan haben, aber die negativen Gefühle sind da.
Marya zuckt nur mit den Schultern und sagt: «Ich muss dich nicht kennen, um zu wissen, dass du ein Flittchen ist» Das bringt dasFass fast zum Überlaufen. Doch genau in dem Moment, als ich zu einer Erwiderung ansetzen möchte, verstärkt Tobias seinen Griff und lenkt mich somit von ihr ab. Als Marya keine weitere Antwort von mir bekommt, geht sie wieder. Augenblicklich lässt mich Tobias wieder los. «Tut mir leid...Aber ich dachte du sagst jetzt noch irgendetwas zu Marya, was vermutlich alles schlimmer gemacht hätte», murmelt er hinter mir. «Danke, hätte ich wirklich. Du hast mich abgelenkt und der Klügere gibt ja bekanntlich nach», gebe ich mit einem Schmunzeln zu, stehe auf und gehe mich anziehen.

Als ich wiederkomme, hat Tobias unsere Sachen schon zusammengepackt. Einige der Anderen schlafen jedoch immer noch. Da ich nicht untätig herumsitzen will, fällt mir zum Glück noch etwas ein, was dringend gemacht werden muss. Deswegen gehe ich zu Tobias, ziehe ihn an der Hand hinter mir her und bedeute ihm dann sich in dem kleinen Bad auf die Wanne zu setzen. Da ich mich beim Umziehen hier umgesehen habe, weiß ich, dass ein Verbandskasten in einem kleinen Schrank liegt. Als ich eine Pinzette und eine Schere daraus hervor hole, scheint auch Tobias mitzubekommen, was ich vor habe. Vorsichtig zieht er sein T-Shirt über den Kopf und versucht sich dann so aufrecht wie möglich hinzusetzen. Zunächst wickle ich seinen Verband ab und schauen mir danach die Wunde an. Die Haut ist sehr gut wieder zusammengewachsen und obwohl die Fäden schon fast zu lange drinnen waren, scheint alles gut zu sein. Deswegen hebe ich den Knoten des Fadens leicht mit der Pinzette nach oben, damit ich die Fadenschlaufe mit der Schere durchtrennen kann. Als letztes ziehe ich den Faden heraus und bin fertig. Tobias verzeiht dabei keine Miene und blickt stur geradeaus. Er betrachtet kurz die rosige Haut und zieht sich dann mit einem Ruck sein Shirt wieder über den Kopf. «Jetzt noch dein Bein», sage ich. Auch dieses sieht schon wieder so gut aus, dass man die Fäden ziehen kann. Ich wiederhole also das Prozedere und als ich mit allem fertig bin, packe ich die Sachen wieder zusammen, nehme die Verbände aus dem Koffer aber mit. Diese packe ich in meinen Rucksack ein, da man nie wissen kann, wann man sie braucht.

Tobias, der mir zu meinem Rucksack gefolgt ist, beobachtet mich nun aufmerksam. Auch als ich mich stumm auf den Boden setze, ruhen seine Augen weiterhin auf mir. Deswegen frage ich leicht genervt: «Was ist?» »Nichts, du hast mich nur an jemanden erinnert...» «Und an wen?», hake ich vorsichtig nach, da es mich wirklich interessiert. Doch die Antwort soll ich nicht erfahren, denn genau in dem Moment fängt die Erde an zu beben und ein lauter Knall ist zu hören. Auch die Decke über uns knarzt bedrohlich und kleine Bröckel fallen herab. Das ist auch der Augenblick, wo die letzten erwachen. Wahrscheinlich war es jetzt nicht die beste Idee, in einem heruntergekommenen Haus zu übernachten.
«Nehmt schnell eure Sachen und stellt euch an den Rand!», schreit Tobias über das Tosen hinweg. Die Anderen beeilen sich seiner Anweisung zu folgen.
Ein Knall folgt jetzt dem nächsten und die Erschütterungen sind so groß, dass ich auf die Knie falle. Tobias, der immer noch neben mir steht, zieht mich nach oben und weiter Richtung Rand. Doch plötzlich bricht die gesamte Decke ein. War ja klar, dass das passieren muss. Tobias scheint es ein paar Sekunden später als ich zu bemerken. Doch ich nutze die Zeit, denn wir werden nicht am Rand ankommen. Also stoße ich ihn um, sodass er auf den Rücken fällt und versuche ihn mit meinem Körper zu schützen. Zwar versuche ich meine Spannung zu halten, breche jedoch manchmal ein, wenn etwas größere Schuttbrocken auf mich fallen. Tobias versucht uns zu drehen, aber ich habe noch genug Kraft um mich dagegen zu wehren. Erst als mich ein großer Gesteinsblock, vor dem mich Tobias nicht mehr warnen konnte, trifft und mich sofort höllische Schmerzen durchfahren, breche ich auf Tobias zusammen. Zwar rollt der Stein wieder runter, aber die Schmerzen bleiben bestehen. Als ein weiterer auf mich fällt wird mir fast augenblicklich schwarz vor Augen.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWhere stories live. Discover now