2. Kapitel

679 25 6
                                    

Ich stehe vor meiner künftigen Schule bzw. meinem neuen Zuhause. In diesem Fall ist es wohl dasselbe. Links von mir steht Mutter Theresa und rechts der Direktor dieser Schule. Meinen Koffer habe ich dem Direktor direkt nach dem Ausladen abgenommen, hinter mich gestellt und den Griff umklammere ich leicht. Bin ich aufgeregt? Habe ich Angst neue Leute kennenzulernen? Will ich neue Leute kennenlernen? Ich weiß es nicht.

Es ist allerdings die letzte Frage, die mich erschreckt. Schließlich war das damals der einzige Grund, warum ich mein behütetes Leben hinter mir gelassen habe. Der einzige Grund, warum ich meine Mutter verlassen habe. Und jetzt bin ich mir schon nicht mehr sicher, ob das immer noch mein Ziel ist? Ob ich das noch möchte? Sollte ich es nicht bereuen, gegangen zu sein?
Doch dann sehe ich das Bild von Dara in meinem Kopf, wie die kleine weißhaarige Frau in ihrem Schaukelstuhl sitzt und eins meiner Lieblingsbücher ließt. Ich sehe sie vor mir, wie sie dieses Buch auch noch kurz vor ihrem Tod ließt, einfach nur, weil sie das Ende wissen möchte. Als das Bild langsam wieder verschwindet weiß ich, dass ich nichts bereue.

Ich schaue auf zu dem riesigen Portal der Schule, welche alle hinteren Teile verdeckt. Ich schlucke meine Angst hinunter und schiebe meine Gedanken, meine Fragen nach hinten. Dann nicke ich dem Direktor zu und er führt uns ins Schulgebäude. Direkt in der Eingangshalle ist eine große Treppe, die wir nehmen, um in die zweite Etage zu gelangen. Von dort aus führt uns der Direktor durch einige Gänge, um am Ende vor seinem Büro anzuhalten. Er öffnet jedoch eine Tür daneben und deutet Theresa und mir einzutreten. Während er den Test holen geht, setze ich mich an eine Schulbank, in der Mitte des kleinen Klassenzimmers. Meinen Koffer habe ich am Rand abgestellt.

Als der Direktor wiederkommt, legt er mir eine Mappe und einen Stift vor die Nase und setzt sich letztendlich zusammen mit Theresa vorne an den Lehrertisch. Beide scheinen mich zu beobachten, doch statt mir die Mappe genauer anzuschauen, schaue ich mich zunächst in dem Raum um. Es ist ein typisches kleines Klassenzimmer, für ungefähr zehn Personen. Solche hatten wir auch im Heim. Der Direktor räuspert sich, was ihm meine Aufmerksamkeit einbringt und sagt dann: «Deine Zeit läuft schon lange. Solltest du nicht langsam mal anfangen?» Ich zucke mit den Schultern, nehme seine Frage jedoch ernst und fange an.

Die meisten Aufgaben sind leicht und ähneln denen aus dem Heim. Aber es gibt auch andere, die ich nur durch das Wissen von Dara, welches sie an mich weitergegeben hat, beantworten kann. Während ich also diese Fragen beantworte, fühle ich mich an den Tag zurückversetzt, als ich die Antworten selber erst erfahren habe.

Dara und ich stehen auf dem Dach des Krankenhauses. Ihre Haare werden durch den Wind nach hinten, aus ihrem Gesicht geweht. Während ich mir meine aus dem Gesicht halten muss. Es ist nur die Stille zwischen uns, die ich jedoch mit meiner Frage durchbreche: «Könntest du mir bitte etwas von unseren zwei Königreichen erzählen?»
»Das ist eine außergewöhnliche Bitte mein Engel. Du solltest wissen, dass man so etwas nicht in der Schule gelehrt bekommt. Nicht zu deiner Zeit und auch nicht zu meiner. Doch du kannst dich glücklich schätzen, denn ich weiß eine ganze Menge darüber.«

Sie macht eine kleine Pause, ehe sie weiterspricht: »Zunächst zu unserem Land. Es heißt Galenstenia. Es erstreckt sich von der Wüste über den ganzen Norden. Endet jedoch an einem Ozean. Das andere, angrenzende Königreich heißt Majenstenia. Dieses erstreckt sich hinter unserer Wüst bis in die Mitte dieses Kontinents. Die beiden Königreiche sind jedoch verfeindet. Der Grund dafür liegt schon lange zurück. Der König von Majenstenia, Richard heißt er, sucht einen Anlass zum Krieg. Zum Glück kann Alfonso, unser König, immer die Lage entschärfen. Doch es ist kein Geheimnis, dass auch er seine Truppen stärkt. Schließlich bereitet Alfonso sich auf einen möglichen Krieg vor. Richard hat vermutlich bald einen Anlass gefunden, für den man keine Diplomatie als Ausweg mehr sehen kann. Wahrscheinlich wird er etwas fordern, was Alfonso nicht hat. Natürlich wir unser König alles daran zu setzen es zu bekommen, wird jedoch daran scheitern. Dann kommt es zum Krieg. Außer es gibt ein kleines Wunder.« »Was wird Richard fordern?«, frage ich tonlos. Eine Aussicht auf einen Krieg klingt in meinen Ohren schrecklich. Besonders wenn man ihn plant, auch ganz bewusst auf ihn zuschreitet, die verschlossene Tür aufreißt und die Konsequenzen einfach übergeht.
»Er wird seine Tochter zurück fordern. Behaupten der König von Galenstenia hätte sie entführt. Was natürlich völliger Irrsinn ist, wenn du mich fragst. Die ganzen Jahre, die schon vergangen sind, als seine Tochter verschwunden ist und die auch noch kommen werden, da hat er sich einen feuchten Dreck darum geschert. Doch es wird ihm wieder einfallen. Dann wird es Krieg geben«, fährt Dara fort.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWhere stories live. Discover now