20. Kapitel

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«Vielen Dank für alles!», rufe ich ihm noch hinterher. Dann ist er fort.
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«Was willst du jetzt machen?», höre ich Tobias' Stimme hinter mir. Noch sitze ich mit dem Rücken zu ihm, da ich Grey nachgeschaut habe. Doch da er mich nun angesprochen hat, wende ich mich zu ihm um und erwidere seinen Blick eisig. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, schrumpft er ein wenig in sich zusammen, selbstbewusst bleibt er trotzdem. Sein triumphierender Tonfall zu seiner Frage macht klar, dass er meine Antwort schon klar erkennt. Vielleicht ist sie das auch, nur ich selber weiß noch nichts davon.

Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, gehe ich an ihm vorbei ins Haus. Dort suche ich zunächst meinen Rucksack, den mir Mark ohne weitere Worte reicht, wo ich neue Sachen rausnehme. Ich bin immer noch komplett durchnässt und möchte nur ungern krank werden. Sollte ich alleine weiterziehen, würde das alles nur verkomplizieren.
Ich gehe also ins Bad und ziehe mir die neuen Sachen an, die aus einer langen Hose und einem weißen T-Shirt bestehen. Obwohl ich schon länger nicht geduscht hab, wenn man den Regen gestern nicht mitzählt, fühle ich mich wie frisch. Auch ein Blick in den Spiegel bestätigt mir das. Ich schultere meinen Rucksack, den ich an der Badezimmertür abstellt habe, und verlasse den kleine Raum um dann auf den Ausgang zuzugehen.

«Ist das jetzt wirklich dein Ernst?», höre ich eine hohe, erschrockene Stimme hinter mir sagen. Als ich mich umdrehe, steht mir Marya gegenüber. Ich habe nicht vor zu antworten, weswegen ich sie nur anschaue. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie Tobias sich neben sie stellt. «Lass sie doch, Marya», meint er mit kraftloser Stimme. So schnell gibt er auf? Scheinbar hatten ihre abweisende Art und die Standpauke von gestern doch nicht ihre Wirkung verfehlt. Oder steckte noch mehr dahinter? Was wollte Tobias mir damit zeigen, wo doch allen klar war, dass er mich nicht gehen lassen wollte? Seine wahren Absichten erkannte man in seinen Augen, verborgen hinter der aufgesetzten Maske. Doch, warum auch immer, konnte ich sie mittlerweile ganz gut durchschauen. Leider brachte mich das mit seinen wahren Absichten nicht weiter.

«Nein! Sie kann nicht einfach gehen!», ruft ein Mädchen von weiter hinten leise. Obwohl ihre Stimme zunächst einem Flüstern gleicht, so ist ihr Gesagtes dennoch gut zu verstehen. Es liegt daran, dass gerade kein Anderer ein Laut von sich gibt.
Dennoch ziehe ich nur meine Augenbraue hoch, als unausgesprochene Frage nach dem Wieso. Zunächst herrscht weiterhin Schweigen, welches ausgerechnet Marya unterbricht, indem sie sagt: «Du weißt was man machen muss, wenn sich einer verletzt hat.» Ich beiße mir auf die Lippen. Eigentlich will ich es nicht tun, aber dann antworte ich ihr mit sarkastischem Unterton: «Wow, das ist ja richtig viel! Besonders wenn man sich nicht helfen lassen will! Dann bin ich nicht besonders hilfreich!» Zum Ende hin ist meine Stimme etwas lauter geworden. Tobias und Marya, die sich scheinbar beide angesprochen fühlen, Zucken kurz zusammen. Ich stoppe und spreche dann ruhiger weiter. «Beantwortet mir bitte doch eine Frage. Dann kann ich ja immer noch entscheiden, ob ich bleibe oder gehe. Was seht ihr in mir?»

Zunächst schweigen alle betreten, weswegen ich mich umdrehe und die Tür öffne. Ohne auch nur auf eine Antwort zu warten, setzte ich an, die Treppe hinunter zu gehen. Plötzlich werde ich an einem Arm zurück gezerrt und festgehalten. Jemand anderes schließt wieder die Tür, nimmt mir meinen Rucksack ab und stellt ihn daneben. Der Griff um meinen Arm löst sich und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich umzudrehen. Ich knirsche mit den Zähnen und schaue sie erwartungsvoll an.

«Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, so viele Dinge sind es... Angefangen damit, dass du uns auf die Idee mir der Flucht gebracht hast.», meint der Junge mit den roten Haare, der mich gestern mit gesucht hat. «Du hast uns vor den Soldaten gerettet, indem du Tobias dazu gebracht hast weiterzugehen», fügt eine Freundin von Mayra hinzu. «Dank dir habe ich bis jetzt nicht gefroren. Nur weil du mir deinen Pullover gegeben hast und somit selber frieren musstest», erzählt das dunkelhaarige Mädchen, an welches ich mich noch gut erinnern kann. «Du warst zur Stelle, als die Mine explodiert ist und Melissa sich nicht mehr gerührt hat. Auch mich hast du an dem Tag verarztet.» Solanas Blick ist vorwurfsvoll, so als frage sie sich, ob ich das vergessen hätte. Doch ihre Stimme ist weich und voller Hoffnung.
Die Anderen schweigen wieder. Doch in ihren Gesichtern kann ich kaum etwas ablesen. «Es gibt noch so viele Dinge, die wir aufzählen könnten, aber ich glaube wir sollten das bei einem letzten Beispiel belassen. Darf ich dir das bitte erläutern?", meldet sich Tobias nun zu Wort. Als Antwort zucke ich nur mit meinen Schultern, was er als positive Reaktion aufnimmt.
«Zunächst glaube ich nicht, dass wir etwas sagen können, was deine Meinung ändert. Es ist wie damals, als du die Flucht vorgeschlagen hast. Du wärst auch ohne uns gegangen und so wird es jetzt auch sein. Aber nun will ich dir mal meinen Grund nennen. Ohne dich wären wir schon längst verloren gewesen, so oft hast du uns schon vor den Soldaten gerettet. Nicht nur, als du mich überredet hast weiterzulaufen. Als wir im Tunnelsystem verfolgt wurden, hast du uns weitergeführt, da ich schon lange den Überblick verloren hatte. Im Einkaufszentrum hast du deine Gruppenmitglieder und in dem Burogebäude uns alle geschützt. Ohne dich wären wir alle gefangen worden.» Er beendet seine Ausführungen, während ich zu Boden blicke.
Tobias hat Recht. All ihre Sachen, die sie gesagt haben, tragen nichts zu meiner Entscheidung bei. Kann ich nicht alles wieder mit einer Gegenfrage ins Wanken bringen? Am liebsten würde ich schreien: «Wollt ihr nur nicht dass ich gehe, weil ihr mich braucht?» Wäre es nicht sinnvoller allein weiterzuziehen? Doch warum fällt es mir so schwer zu gehen? Die Antwort ist einfach, so sehr es mich schmerzt das zuzugeben, aber ich brauche ihren Schutz, ihre Gesellschaft und irgendwie auch Marya, mit ihren bissigen Kommentaren, und Tobias, der immer Verständnis für mich aufbringt. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich dränge mich durch den Halbkreis, der sich um mich gebildet hat, verschwinde ins Krankenzimmer und knalle die Tür hinter mir zu.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt