6. Kapitel

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Die Nacht von Sonntag zu Montag ist für mich sehr kurz. Ich habe wahrscheinlich nur drei Stunden geschlafen, als ich 4:30 Uhr aufwache. Die Müdigkeit ist für mich nicht das schlimmste, sondern dass ich mich an jeden einzelnen Traum erinnern kann, den ich hatte.

Der erste Traum, den ich hatte, war von meiner Mutter. Als erstes sehe ich, wie sie aus dem Fenster eines Turmes schaut. Als sie sich umdreht kann man erkennen, dass sie in einer Zelle sitzt. Sie schreit und weint. Als dann ein, mir unbekannter, Mann hereinkommt, beruhigt sie sich. Erst schaut er sie eine lange Zeit an und erst nach einer gefühlten Unendlichkeit spricht er mich einer monotonen Stimme: «Hallo Melissa. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen, oder? Ich bin hier um dir ein paar Fragen zu stellen.»
Sie starrt den Mann mit einer Mischung aus Entsetzen und Besorgtheit an. Dann flüstert sie: «Ja, es ist schon lange her. Doch ich glaube du irrst dich wenn du annimmst, dass ich deine Fragen beantworten werde.» Der Mann lacht trocken auf. «Das habe ich schon geahnt. Was ist wenn ich dir sage.....» Die folgenden Worte verstehe ich nicht. Doch meine Mum wird zunehmend blasser. Dann, als sie etwas sagt, verstehe ich wieder die Worte. «Okay, ich werde deine Fragen beantworten. Was willst du wissen?», fragt sie mit erstickter Stimme. «Wieso gibt es in deinem Haus keine Bilder? Weder von dir noch von deiner Tochter?» Sie beißt sich auf die Lippe. Doch dann antwortet sie: «Es gab vor einiger Zeit welche. Doch ich habe alle verbrannt. Du sollst nicht wissen wie Sie aussieht!» «Ich werde sie trotzdem finden. Ich habe Mittel. Und um genau zu sein, hilft mir das sehr weiter.» «Das kannst du nicht machen! Du weißt nicht was du damit anrichtest!», schreit sie ihn an, als wüsste sie noch etwas anderes. Doch er fängt nur an zu lachen und geht aus dem Zimmer. Meine Mutter bricht nun wieder in Tränen aus.

Das Bild hat sich geändert. Sie ist nicht mehr gefesselt. Stattdessen steht sie in der Mitte des Raumes und dreht sich einmal im Kreis. Als sie wieder stehen bleibt, ist ihr Gesicht mit Freude erfüllt. Dann greift sie in ihren Ausschnitt und holt ihr Handy hervor. Scheinbar hat Mum es dort in Eile noch. Schnell tippt sie eine Nachricht. Von draußen sind Schritte zu hören. Deswegen rufe ich ihr, mit dem Wissen, dass sie mich nicht hören kann, zu das jemand kommt. Doch sie steckt schon wieder ihr Handy weg, als genau in dem Moment die Tür aufgeht und jemand ein Tablett, mit Essen und Trinken hereinbringt. Sie sagt Danke, schaut dabei aber nicht in seine Richtung, sondern in meine. Der Mann stellt das Tablett hin und verschwindet dann wieder. Er scheint mich nicht zu sehen, genau wie Mom. Deswegen verstehe ich das nicht.

Dann kommen andere Träume. In vielen sehe ich den Mann und beobachte ihn. Doch jedes Mal wenn er etwas Wichtiges zu sagen scheint, verstehe ich ihn nicht. So ist das eine ganze Weile.

Dann wache ich endlich auf. Obwohl es noch sehr früh ist, ziehe ich mich schon an. Schlafen könnte ich jetzt eh nicht mehr. Deswegen setze ich mich als erstes an meine Hausaufgaben, damit ich sie wenigstens einmal habe. Außerdem haben wir Ethik, auf was ich mich schon ziemlich freue. Heute fällt das erste Fach aus, weswegen wir Ethik als Vertretung bekommen haben. Wahrscheinlich werden wird da eine Gespächsrunde machen, was meistens ziemlich interessant ist.
Als ich mit allem fertig bin, nehme ich mein Handy. Da es leer ist, muss ich es also Aufladen.

Mittlerweile ist es fast schon so weit. Ich kann mich also auf den Weg in meine Klasse machen. Wenn ich mir viel Zeit lasse, bin ich auch nicht viel zu früh da. Mit diesem Gedanken mache ich die Tür auf.
Davor steht Tobias, mit zur Faust geballter Hand, zum Anklopfen angesetzt. Er lässt seine Hand sofort wieder sinken, als er mich erkennt. Gerade will ich etwas sagen, als er meint: «Warte, bevor du etwas sagst: Es tut mir leid, was ich gestern zu dir gesagt habe.»
Ich bin verblüfft und auch ein bisschen verwirrt. Dass er sich dafür entschuldigt, zu viele Fragen gestellt zu haben, was er beim Abendessen gestern gemacht hat, hätte ich überhaupt nicht gerechnet. Es gibt also noch eine zweite Person, neben Marya, die mich so durcheinander bringen kann. Da ich nicht sofort antworte, fragt Tobias: «Wollen wir vielleicht zusammen zu Ethik gehen?» Zu Zustimmung nicke ich nur, gehe aus meinem Zimmer und schließe die Tür. Der Weg ist so wie die Pausen immer. Tobias redet und ich höre zu. Zwar gebe ich nichts zu dem Gespräch hinzu, aber das scheint ihn wirklich nicht zu stören. Das kann ich mir nicht erklären, aber fragen möchte ich ihn auch nicht.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt