36. Kapitel

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Alissa

Wir reiten schon seit einigen Minuten durch den Wald und von Sekunde zu Sekunde fängt Ben mehr an zu strahlen.

„Wie ist das überhaupt mit deinen Beinen passiert?", frage ich ihn vorsichtig. Er dreht den Kopf in meine Richtung und scheint einige Minuten zu überlegen, wie er mir jetzt darauf antworten soll.

„Ich habe einen Unfall gehabt. Dabei sind meine Beine so verletzt worden, dass ich sie nicht mehr spüren kann." Ich nicke einfach nur, da ich ihn nicht weiter drängen will. „Wohin sind wir eigentlich genau unterwegs?" Ben wirft erst mir und dann Damara einen fragenden Blick zu.

„In jedem Rudelterritorium gibt es einen Ort oder ähnliches, das hervorsticht. Bei Nikita sind es zum Beispiel die Pflanzen, die Tiere schneller werden lassen. Bei uns ist es eine Blume, die es auch wirklich nur einmal gibt. Die Blütenblätter haben eine magische Wirkung und können jede Krankheit und jede Verletzung heilen. Allerdings geht dies nur mit meiner Erlaubnis. Die Blume spürt, ob ich die Erlaubnis gegeben habe oder nicht. Ich hingegen gebe meine Erlaubnis nur, wenn ich es für angemessen halte und es nicht nur aus rein egoistischen Gründen." Die magische Blume. Sie ist es auch damals gewesen, die mich geheilt. Seitdem habe ich diese Lichtung nicht mehr gesehen, weil sie an sich eigentlich einen verbotenen Ort darstellt.

„Aber bei mir ist es doch eigentlich aus einem egoistischen Grund?"

„Aber bei dir halte ich es auch für angemessen. Schließlich kann ich dir und deinen Freunden somit eine Kleinigkeit zurückgeben." Damara schenkt ihm ein herzliches Lächeln.

„Danke. Für mich ist das ganz und gar keine Kleinigkeit und ihr wisst nicht, wie viel mir das bedeutet."

„Ich kann es mir vorstellen. Aber jetzt sollten wir aufpassen. Wir sollten die Lichtung gleich erreichen", beendet Damara das Gespräch. Bei diesen Worten reihen wir uns wieder hintereinander ein, da die Bäume jetzt anfangen, immer dichter und dichter zu werden. Schließlich kann ich in einiger Entfernung eine Stelle entdecken, wo der Wald sich ein bisschen lichtet und auch die anderen scheinen die Stelle bemerkt zu haben, denn Damara spornt ihr Pferd noch etwas weiter an. Ich bleibe an letzter Stelle in meinem Tempo und erreiche somit die Lichtung als Letzte.

Wie schon beim ersten Mal erschlägt es mir förmlich die Sprache und ich kann nichts weiter tun, als mir alles genau anzusehen. Die Luft scheint voller Leben zu sein, das Gras ist grüner, als irgendwo sonst und in der Mitte thront sie. Die Blume geht mir vielleicht gerade Mal bis zum Knie, doch die geöffneten Blütenblätter strahlen in den verschiedensten Farben, dass ich die Augen zusammenkneife. Langsam kommt mein Pferd neben den anderen zu stehen und ich beobachte mit einem Lächeln auf den Lippen, wie Ben sich sprachlos umsieht.

„Das ist einfach nur ... wow!" Ich muss selber zugeben, dass es mir damals nicht anders ergangen ist. Diese Lichtung besitzt eine ungewöhnliche Ausstrahlung und erscheint fast wie das Paradies. Alle Farben leuchten hier heller und man fühlt sich auf einmal viel lebendiger.

„Ich würde sagen, wir lassen die Pferde hier am Rand stehen. Alissa, hilfst du mir, Ben in die Mitte zu tragen." Damara wirft mir einen fragenden Blick zu und nachdem ich genickt habe, schwingen wir uns fast gleichzeitig von unseren Pferden. Nach einigen Versuchen haben wir es dann schließlich auch geschafft, Ben von seinem Pferd hinunterzubekommen und ich helfe Damara dabei, ihn in die Mitte zur Blume zu schleifen. Dort lassen wir uns im Gras nieder und Damara berührt vorsichtig die Blume.

Einige Augenblicke, in denen niemand etwas sagt, vergehen, ehe sie mit einer schnellen Bewegung ein Blütenblatt abreißt. Dieses reicht sie vorsichtig, als könnte es jeden Moment zerbrechen, an Ben weiter, der es für einige Sekunden mustert.

„Du musst es einfach essen", spricht sie ihm Mut zu und er beginnt damit, das Blatt zu essen. Während er etwas länger auf dem Blatt herumkaut, verzieht er ab und zu das Gesicht. Ich erinnere mich noch, damals hat es genauso widerlich geschmeckt, wie es jetzt scheinbar tut. Schließlich schluckt er den letzten Teil hinunter und Damara reicht ihm einen Beutel gefüllt mit Wasser, den sie schon die ganze Zeit mit sich trägt. Gierig trinkt er ihn aus, bis er erleichtert seufzt.

Bei mir ist es auch so gewesen, dass meine Kehle auf einmal ziemlich trocken gewesen ist und bei dem Gedanken daran, was jetzt als nächstes kommt, verziehe ich das Gesicht. Zwar ist die Verletzung von Ben nicht so schlimm, wie bei mir damals, wo ich doch knapp an der Schwelle zum Tod stand, trotzdem sollten die Schmerzen, die ihn nun erwarten, alles andere als leicht zu ertragen sein. Auf einmal verzieht er das Gesicht und ihm entfährt ein kurzer Schrei. Langsam krallt er seine Hände in das Gras und ich erkenne, wie er die Zähne aufeinanderbeißt.

„Ben, hör mir zu. Denk an etwas Schönes. Oder erzähl mir etwas." Ich lenke seine Aufmerksamkeit auf mich, um ihn wenigstens ein bisschen von den Schmerzen abzulenken.

„Wie lange dauert das?", fragt er stockend.

„Das ist unterschiedlich. Es kommt auf die Verletzung an. Bei mir hat es damals mehrere Stunden gedauert, aber ich bin auch schon halb tot gewesen. Wenn du kurz die Zähne zusammenkneifen kannst, könnten wir gucken, ob wir dich auf dein Pferd bekommen und so zu Cheryl reiten können. Dort hättest du ein Bett und auch was zu essen", schlage ich ihm vor. Bei mir habe ich damals eine Fressattacke nach der anderen gehabt. Damara erzählt immer, sie hätte damals geglaubt, ich würde nie mehr satt werden. Ben nickt nach einigen Sekunde, wobei ich erkenne, wie viel Kraft in das kostet.

„Du musst einfach ganz stark sein", spreche ich ihm weiter Mut zu. Damara ist in der Zeit aufgestanden, um sein Pferd näher zu uns zu holen. Schließlich bleibt sie bei uns stehen und gemeinsam schaffen wir es, Ben auf sein Pferd zu heben. Sofort umklammert er wieder die Zügel, einfach, um etwas zu haben, an dem er sich festhalten kann. Eilig steigen auch Damara und ich auf unsere Pferde, damit wir so schnell wie möglich bei Cheryl ankommen. Damara erklärt mir kurz, wo wir lang müssen, ehe sie sich Ben zu wendet.

„Ich kann dein Pferd lenken. Du darfst nur nicht viel zu sehr an den Zügeln herumreißen." Sie befestigt ein Strick an dem Halfter und Ben nickt einfach nur. So machen wir uns auf den Weg, wieder zu den anderen zurückzukehren. Immer wieder höre ich, wie Ben ein paar schmerzvolle Laute von sich gibt und wie Damara kurz mit ihm redet. Ich hingegen wandere mit meinen Gedanken zurück zu meiner Heilung.

Damals haben meine Schreie die Stille des Waldes durchbrochen. Meine Mutter saß den ganzen Tag und die ganze Nacht neben mir und hat meine Hand gehalten. Sie hat alles ertragen, jedes Mal, wenn ich ihre Hand wieder ein bisschen fester gedrückt habe, wenn eine neue Schmerzenswelle gekommen ist und jedes Flehen, wenn ich sie gebeten habe, dass die Schmerzen aufhören soll. Doch als sie mich brauchte, als sie die Beere schluckte, habe ich einfach nur dagestanden und zu gesehen. Ich hätte neben ihr sitzen sollen und ihre Hand halten sollen, so wie sie es bei mir gemacht hat, doch ich habe es nicht getan. Eine Träne rinnt still über meine Wange und ich hole einmal tief Luft, um mich wieder zu beruhigen. Jetzt bloß nicht weinen.

„Kannst du mir kurz helfen?", ruft Damara hinter mir und ich drehe mich auf dem Sattel um. Scheinbar hat eine neue Schmerzenswelle Ben ergriffen, denn er hängt mehr auf dem Pferd, als das er sitzt. Schnell lenke ich mein Pferd nach hinten und gebe Ben von der anderen Seite Halt.

„Hörst du mich, Ben?" Ich spreche extra ein bisschen lauter und nach einigen Sekunden regt er sich wieder.

„Ja, du musst nicht so schreien", gibt er von sich. Ich überlege kurz, was ich jetzt sagen kann, aber mir ist klar, dass ich irgendwas sagen muss, um ihn von den Schmerzen abzulenken. Ich werfe Damara einen kurzen fragenden Blick zu, doch sie zuckt einfach mit den Schultern.

„Wer ist dein bester Freund? Erzähl mir ein bisschen von ihm."

„Sein Name ist Ace." Seine Antwort kommt erst nach einigen Sekunden und dann auch nur stockend. Aber langsam schaffe ich es immer mehr, ihn zum Reden zu bringen. So kann ich mir den Rest des Weges eine Erzählung über Ben's Leben anhören. Doch es tut ganz gut, mal nicht über sich selber zu reden, sondern anderen zu lauschen.

Der schwarze BetaWhere stories live. Discover now