6. Kapitel

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Newt

Erschrocken schrecke ich hoch und muss mich erst an die Dunkelheit gewöhnen, die in diesem Zimmer herrscht, bis ich meine Umgebung erst richtig realisiere. Ich befinde mich in meinem Zimmer, damals beim Kanada-Rudel und hatte grade zum wiederholten Mal einen dieser schrecklichen Alpträume, die mir zur Zeit keinen friedlichen Schlaf ließen.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen, Kate stürmt ins Zimmer und als sie mich so dort sitzen sieht, beruhigt sie sich noch mal einigermaßen.

„Du hast geschrien. Hast du schon wieder an Phileas gedacht?"Besorgt lässt sie sich neben mir nieder und nimmt meine kleinen Hände in ihre, eine Geste, die mittlerweile alltäglich ist und bei dem Namen meines Zwillingsbruders richte ich meinen Blick auf den Boden.

Es ist jetzt fünf Jahre her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe, sein Gesicht verblasst immer mehr und an seine Stimme erinnere ich mich kaum noch. Betrübt nicke ich und kuschel mich an meine große Schwester, die mir noch ein Bisschen das Gefühl von Heimat gibt.

Doch für sie scheint dieser Abschied so viel einfacherer zu sein, inzwischen spricht sie bereits wie die Menschen hier und in Terence, nicht das ich etwas gegen ihn habe, hat sie ihren wahren Seelenverwandten gefunden. Aber meiner ist nicht hier, sondern meilenweit entfernt, Kate hat mir öfters erzählt, dass man uns als kleine Kinder nur zusammen angetroffen hat, wir wären wie Pech und Schwefel gewesen.

„Komm schon. Die Sonne geht gleich auf, am besten wir frühstücken jetzt mal, heute beginnt die Vorbereitung auf die große Entscheidung. Bist du aufgeregt?"

Augenblicklich spüre ich, dass sie versucht, mich nur abzulenken und aus ebendiesem Grund schenke ich ihr ein schwaches Lächeln, ehe ich nicke. Die große Entscheidung, unser erstes richtiges Ritual, wo wir uns für unseren zukünftigen Beruf entscheiden müssen.

Bisher habe ich dieses Thema immer verdrängt, doch mittlerweile kann man es nicht mehr ignorieren. Wie oft haben die anderen Kinder in letzter Zeit über dieses Ereignis geredet, während ich still daneben gesessen habe?

Aber mich bringt besagte Veranstaltung nur noch mehr zum Grübeln. Es bringt mich dazu, darüber nachzudenken, was mit Phileas ist. Wie es ihm geht oder welchen Beruf er wohl auswählen wird.

Damals ist er der Stärkerer von uns beiden gewesen, wenn nicht sogar der stärkste unter uns Kinder im Rudel, wahrscheinlich könnte er alles werden. Ich hingegen bin das komplette Gegenteil von ihm. Nicht wirklich kräftig und auch sonst habe ich keine besonderen Eigenschaften, bin weder sonderlich schlau, noch habe ich einen grünen Daumen.

Na gut, Kate schwärmt zwar immer von meiner Ausdauer und der langsamste bin ich jetzt auch nicht. Trotzdem habe ich keine Ahnung, welchen Beruf ich wählen soll.

Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg zum Platz, wo wir uns heute versammeln. Als ich ankomme, sind schon nicht gerade wenig Personen hier, sowohl Kinder in meinem Alter, als auch Erwachsene. Während ich mich zu zwei anderen stelle und mich mit ihnen unterhalte, kommen immer mehr Menschen noch hinzu.

Schließlich tritt unser Alpha vor und als er die Arme hebt, wird es still und alle Augen richten sich auf ihn. „Ich freue mich, dass ihr alle hier seid. Im nächsten Jahr werdet ihr euch intensiv mit unseren Berufen auseinandersetzen, bis ihr euch am Ende des Jahres entscheiden müsst. Während dieser Zeit werdet ihr vollwertige Rudelmitglieder in ihrem Beruf begleiten und auch ein paar eigene Aufgaben übernehmen. Gleichzeitig ist es eine große Ehre für mich, einen alten Freund wieder begrüßen zu dürfen. Als Theta reist Daniel durch die ganze Welt und das nächste Jahr wird er hierbleiben und euch mit Rat und Tat zur Seite stehen."

Nach seiner Rede bekommt er kurzen Applaus und er deutet auf den fremden Mann neben sich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihn hier noch nie gesehen habe und mustere ihn aufmerksam.

Ich habe schon öfters von den Thetas gehört, die keinem richtigen Rudel angehören und von Territorium zu Territorium reisen. Auf einmal schweift der Blick von diesem Daniel auf mich und ich wende schnell meinen Blick ab, da es mir mehr als nur peinlich ist, dass er mich beim Starren erwischt hat.

Endlich löst die Versammlung sich langsam auf und die meisten Kinder gehen zu dem jeweiligen Vertreter des Berufes, den sie ausprobieren möchten. Ich hingegen bleibe wie angewurzelt stehen, da ich absolut keine Ahnung habe, welcher mich interessiert.

„Hey, du scheinst dich noch keinem Beruf zugeordnet zu haben. Wenn du möchtest, kannst du zu uns kommen", ertönt plötzlich eine Stimme neben mir und reißt mich aus meinen Gedanken.

Völlig überrumpelt blicke ich zu Daniel auf, der genau vor mir steht, und bekomme kein Wort aus meinem Mund. Auf einmal schießt mit eine Idee durch den Kopf. Als herumreisender Theta könnte ich Phileas suchen, ich könnte meinen Zwillingsbruder finden.

Doch genauso schnell, wie diese Idee gekommen ist, klingt meine Freude darüber schon wieder ab. Ich müsste Kate hier alleine lassen, in dem Wissen, dass ich sie möglicherweise nie wieder sehe.

Doch anders als ich, hat Kate hier Freunde und eine Familie gefunden, für mich gibt es hier nichts. Also nicke ich einfach nur und folge Daniel zu der Gruppe Kindern, die auch vielleicht Theta werden wollen.


Schleppend öffne ich die Augen, während die Erinnerung langsam, aber stetig wieder verblasst. Eilig fasse ich mir an den Kopf, als Kopfschmerzen sich breitmachen und ich kann den Würgereiz gerade noch so verdrängen.

„Alles in Ordnung?" Ben mustert mich besorgt, wobei er schon wieder in seinem Rollstuhl sitzt. Ich nicke einfach nur, nicht fähig ein Wort herauszubringen, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fasse, obwohl sich mir zehntausend Fragen stellen und selbst mein Gesichtsausdruck scheint zu zeigen, was ich denke.

„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist oder ob wir jetzt wirklich in der kalten Welt sind, aber vielleicht kommst du mal mit raus." Mit einer leichten Kopfbewegung deutet er auf die Türe, die aus dem Raum führt.

In dem Moment, als ich aufstehe, fällt mir die Linie auf, die auf den Boden gezeichnet ist und erst als ich auf beiden Beinen stehe, kann ich das Gesamtbild, den Halbmond erkennen.

Schweigend folge ich Ben vor die Tür, aber muss mich dort auch erstmal wieder an eine der Säulen lehnen, die das Gebäude verzieren, als die Kopfschmerzen zum wiederholten Mal schlimmer werden. Doch während ich meinen Blick über die Umgebung schweifen lasse, kann ich mein Erstaunen nicht zurückhalten.

Ben und ich befinden uns auf einer kleinen Insel mitten auf dem Meer, wobei ich immer wieder weitere schneebedeckten Inseln erkennen kann und ich vermute sogar, dass ich in der Ferne das Festland sehe, aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

„Wir sollten versuchen, von dieser Insel hinunter zu kommen. Wer weiß, was mit den anderen passiert ist."

„Wie willst das bitte schön anstellen? Schwimmen kann ich kaum." Ben sieht ratlos auf das Meer, ehe sein Blick zu seinem Rollstuhl schweift und auch ich muss zugeben, dass ich diese Tatsache für kurze Zeit vergessen habe.

„Aber wir können hier auch nicht ewig bleiben. Bis auf das Haus gibt es hier absolut nichts und wer weiß, ob das Portal in dieser Welt genauso funktioniert, wie das in der anderen", gebe ich zu Bedenken, während ich verzweifelt versuche, mir eine Lösung zu überlegen.

„Dann haben wir nur eine Möglichkeit." Ben entfährt ein Seufzen und er richtet seinen Blick auf mich. „Du schwimmst und guckst, dass du ein Boot aufgatterst. Als Bote muss man das doch gut können, oder?"

„Und ich soll dich hier alleine lassen? Das kommt gar nicht infrage. Wir müssen uns etwas anderes ausdenken."

„Okay, was hältst du davon: Wenn wir in zwei Tagen keine Alternative gefunden haben, machst du dich ohne mich auf den Weg. Sollten wir noch länger warten, könnte es passieren, dass du am Ende zu erschöpft bist." Mit einem schwachen Nicken stimme ich seinem Vorschlag zu, auch wenn es mir missfällt, dass ich ihn hier vielleicht alleine lasse.

Der schwarze BetaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt