12. Kapitel

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Phileas

„Aber ich kann doch gar kein schwarzer Wolf sein", protestiere ich jetzt wieder, während der Beta mich immer noch ignoriert und Thore mich anschweigt und wir über die Wiese trotten. „Ich stehe hier als Wolf vor euch und habe weder schwarzes Fell noch rote Augen."

„Wow, entweder bist du wirklich so dumm oder du tust nur so", bricht der Beta, den ich immer noch nicht wirklich leiden kann, das Schweigen.

„Ich verstehe nicht ganz, was du damit genau meinst."

„Schwarze Wölfe sind eigentlich ganz normale Wölfe, wie du und ich", fängt Thore an, mir zu erklären, „Doch durch irgendetwas verändern sie sich, sie bekommen Anfälle, in denen ihr Fell eine schwarze Farbe annimmt und ihre Augen sich rot verfärben.

Gleichzeitig wissen sie nicht mehr wer sie sind und werden nur noch von ihrem Blutdurst getrieben. Sie können nicht mehr zwischen richtig und falsch entscheiden und erinnern sich an nichts mehr, nicht mehr an ihr Leben, ihre Familie oder Freunde. Mit der Zeit werden diese Anfälle immer häufiger und länger. Zwischen diesen Anfällen hingegen nehmen sie als Wolf immer wieder ihre normale Gestalt an, wobei es somit sehr schwer herauszufinden ist, wer ein schwarzer Wolf ist und wer nicht.

Zudem können sie sich als normale Wölfe genau daran erinnern, was sie in ihren Anfällen getan haben. Bis jetzt haben wir noch keine Idee, wieso sie sich verwandeln und ob man dies wieder rückgängig machen kann."

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich daran denke, wie es sein muss, wenn man Leute ermordet und gar nichts dagegen tun kann, wenn man sich später wieder erinnert. Mir wird kurz übel, ehe ich meinen Blick auf die einzelnen Grashalme richte, über die wir hinweg gehen.

„Keine schöne Vorstellung, was?" Thore hat sich zurückfallen lassen, sodass er mit mir auf gleicher Länge ist, während der Beta die Führung übernommen hat.

„Dieses Schicksal wünsche ich wirklich nicht mal meinem schlimmsten Feind", murmel ich vor mich hin und muss unwillkürlich an sie zurückdenken. Mittlerweile ist es wahrscheinlich fünf Jahre her, dass ich zuletzt in diese Augen geblickt habe, die Augen, von denen ich dachte, dass sie den Schmerz und die Wunden in meinem Herzen heilen könnten.

Wie sehr habe ich mich doch damals geirrt. Es gibt Wunden, die niemand heilen kann, niemand.

„Alles in Ordnung?" Thore mustert mich besorgt und erst jetzt fällt mir auf, dass ich stehen geblieben bin und auf den Boden starre.

„Ja ja, alles gut", murmel ich hastig, ehe ich mich wieder in Bewegung setze. Mit ein paar schnellen Schritten habe ich wieder zu dem Beta aufgeholt, der hingegen einfach weitergegangen ist. „Wohin gehen wir eigentlich?", erkundige ich mich ein paar weiteren Minuten des Schweigens, während ich meinen Blick über die weiten Wiese gleiten lasse, wo ich ab und zu einen einzelnen Baum erkennen kann.

Insgesamt wirkt das alles hier recht einfach und unbewohnt, wobei es wahrscheinlich ein tolles Gefühl ist, über diese Wiesen zu jagen, ohne gejagt zu werden und einfach frei zu sein.

„Zum Rudel. Du kannst kurz etwas essen und bekommst neue Kleidung. Erst danach beginnt deine Aufgabe, schließlich sind wir keine Unmenschen." Der Beta schenkt mir ein hinterhältiges Lächeln, wobei ich immer noch keine Ahnung habe, was es mir diesen Hasen auf sich hat, aber ich nehme mal an, dass sie nicht denen aus meiner Welt gleichen.

Bei dem Gedanken an Essen und frische Kleidung muss ich unwillkürlich lächeln. Meine eigene liegt jetzt wahrscheinlich irgendwo zerfetzt auf der Erde. Nach einiger Zeit erreichen wir einen Baum, von dem aus zwei Striche verbranntes Gras ausgehen. Erschrocken bleibe ich stehen, während ich die Linien mustere, die viel zu perfekt erscheinen, als das sie zufällig entstanden wären.

Langsam macht der Beta einen Schritt auf die Linien zu, immer weiter, bis er schließlich seine Pfote auf die andere Seite setzt. In dem Moment beginnt die Luft um ihn herum zu flimmern und als er auf der anderen Seite steht, verschwimmt er langsam, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.

„Unser Schutzzauber. Du brauchst keine Angst zu haben, als Wolf kannst du ihn bedenkenlos passieren." Der versucht von Thore, mir Mut zu machen, geht eigentlich gewaltig nach hinten los, denn jetzt komme ich nicht umhin, mir vorzustellen, was passiert, wenn man kein Wolf ist.

Kommt man einfach nicht hindurch, wird man verletzt oder stirbt man vielleicht sogar? Bei dem Gedanken daran, dass man vielleicht bei lebendigem Leibe verbrennt, muss ich reflexartig schlucken.

Ich werfe noch einen kurzen Blick zu Thore, der mich anlächelt, ehe ich auf die unsichtbare Grenze zu gehe und in dem Moment, als meine Pfote die Linie überquert, spüre ich ein leichtes Kribbeln an dieser Pfote. Aber da ich noch nicht in Feuer aufgegangen bin, fasse ich immer mehr Mut und nach einigen Augenblicken stehe ich tatsächlich lebend auf der anderen Seite.

Verwirrt sehe ich mich um, da ich den Beta immer noch nicht entdecken kann, doch genau in diesem Moment, verschwimmt meine Sicht, mir wird schwindelig und leicht übel und ich schließe die Augen, damit das Ganze endlich aufhört. Als ich die Augen nach einigen Sekunden wieder öffne, stehe ich wieder sicher auf meinen Beinen und als ich meinen Blick hebe, stockt mir der Atem.

Vor mir erstreckt sich ein kristallklarer See, der von vielen kleinen Häusern gesäumt wird. Manche stehen näher am Wasser, andere weiter weg und der See ist so riesig, dass er selbst noch über mein Blickfeld hinausgeht. Zwischen drin herrscht reges Treiben, aber wahrscheinlich wirkt es auch nur so, da ich gerade die einsamen Wiesen überquert habe.

„Mein Rudel, 148 Werwölfe, die unter meinem Schutz stehen." Erschrocken zucke ich zusammen, als neben mir auf einmal Thore auftaucht und das kleine Dorf, begutachtet. „Wie geht es dir? Beim ersten Mal ist es am schlimmsten, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran, wobei der Schwindel und die Übelkeit irgendwann nachlassen.

„Mir geht es gut", murmel ich, während ich meinen Blick wieder auf das Dorf wende.

„Komm mit, du bist bestimmt hungrig." Mit einer Kopfbewegung deutet er mir zu folgen und langsam machen wir uns auf den Weg zu dem Dorf, wobei sich jetzt schon einige Köpfe in unsere Richtungen drehen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir in Wolfsgestalt hier aufgetaucht sind oder daran, dass Thore der Alpha ist und ich ein völlig Unbekannter, jedenfalls fühlt es sich die ganze Zeit so an, als ob sie jede meiner Bewegungen verfolgen würde, nur darauf lauernd, dass ich einen falschen Schritt mache. Während wir das Dorf durchqueren, wendet sich keiner von uns ab und jede Arbeit scheint vergessen.

Schließlich erreichen wir eine kleine Hütte, deren Tür sperrangelweit offensteht. Als ich nach Thore diesen kleinen Laden betrete, entspanne ich mich unwillkürlich, da ich nun von den Blicken geschützt bin und schon im nächsten Moment mustere ich meine Umgebung genauer.

Der Laden ist klein von bis zur Decke mit allen möglichen Kleidungsstücken vollgestopft. Von außergewöhnlichen Hüten über Kleider, die aus der Renaissance gekommen zu scheinen, bis zu paillettenbesetzten Anzügen scheint es hier alles zu geben.

„Wir würden uns gerne zurückverwandeln. Hast du da etwas für uns?" Die Stimme von Thore durchschneidet die Stille und schon im nächsten Moment steht ein älterer Herr vor uns, der mich misstrauisch mustert. Doch schon im nächsten Moment lockert sich sein Gesichtsausdruck und er strahlt von einem Ohr zum anderen.

„Natürlich Alpha." Mit ein paar schnellen Bewegungen ist er in einem der Gänge verschwunden und nur ein paar Sekunden später kommt er mit mehreren Kleidungsstücken wieder, die tatsächlich normal aussehen.

Ein paar der Kleidungsstücke legt er in eine kleine Kabine, die mich an eine Umkleide erinnert, in der Thore verschwindet und den Vorhang zuzieht.

„Ich habe deine Größen jetzt einfach mal geraten, aber sie sollten passen. Du kannst hier rein." Die Stimme des Mannes passt in keiner Weise zu seinem Aussehen, sie hört sich an, als ob er noch ein paar Jahrzehnte leben könnte, während ich ihn mit seinen grauen Haaren und den vielen Falten schon auf achtzig oder neunzig schätze.

Er deutet nebenbei auf eine andere Umkleide, wo er die Kleidung schon auf eine kleine Ablage gelegt hat. Ich nicke ihm einmal kurz zu, ehe ich in dem kleinen Raum verschwinde und er hinter mir den Vorhang zu zieht. Danach verwandel ich mich zurück, nicht wissend, was mich alles erwartet.

Der schwarze BetaWhere stories live. Discover now