46. Kapitel

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Zunehmend genervt wischte ich mit den Handflächen durch meine Augen.
Schon seit Stunden saß ich über meinen Büchern. Bewaffnet mit Post-its in allen Farben und einem Bleistift den ich langsam zwischen den Fingern rotieren ließ.

Mit einem Seufzen wurde mir bewusst, dass nur noch meine Augen lasen ,das Gehirn aber schon längst nicht mehr zuhörte.
Lern-overload.
Ich ging mit erzwungener Sorgfalt den letzten Absatz ein zweites Mal durch.
Doch obwohl ich die Worte durchaus verstand, weigerte sich das Gehirn wie ein übervoller Koffer, auch nur noch einen weiteren Fetzen Wissen aufzunehmen.
Und damit mir nicht alles um die Ohren flog, beschloss ich eine Pause einzulegen.

Kurz war ich versucht bei Astrid durchzuklingeln, doch ich wollte sie nicht unnötig ablenken.
Auch sie wurde von ihrem Studium zur Zeit sehr gefordert.
In Psychomotorik musste sie im 2. Versuch bestehen und sie war schon die letzten 2 Wochen deswgen ein wenig… angespannt.Um nicht zu sagen, im psychischen Ausnahmezistand.

Das erste Mal hatte sie grandios versemmelt. In ihrer sturen Art war sie trotz 40 Fieber zur Prüfung gegangen, hatte den Fiebersaft nicht gut vertragen und nur wirres Zeug geschrieben.
Nun war also ihr zweiter Anlauf und Astrids Ehrgeiz erreichte ungeahnte Ausmaße.

Rapunzel blieb im Moment meine erste Anlaufstelle, wenn es um Astrid ging.
Wir tauschten uns aus, ob sie genug aß, trank oder ob die Nahrungsaufnahme mal wieder von der Prioritätenliste rutschte. Wie im Wahn bestand ihr Leben zu Zeit nur aus Lernen und Laufen.

Wenn ich denn mal vorbei kam, saßen wir Ewigkeiten stumm zusammen und lernten.
Ich arbeitete dann an ihrem Schreibtisch und
Astrid auf dem Boden.
Dort saß sie dann zwischen aufgeschlagenen Büchern, tausenden losen Zetteln mit Notizen und ernstem Gesichtsausdruck im Schneidersitz auf dem Boden.
Manches Mal tat ich als würde ich in einem Buch eine bestimmte Seite suchen, nur um über den Buchrand heimlich ihr entzückendes grübelndes Gesicht zu beobachten.
Das war die schöne Seite an diesen Abenden.
Die auftreibende, ließ jedoch meist nicht lange auf sich warten.
Denn wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, drückte ich mich um das Abfragen.
So gerne ich sie in ihrem Marathon unterstützte, so sehr glich diese Aufgabe  einer Tortur für mich.
Astrids innere Obsession trat in diesen Momenten nach außen und mit verbissener Genauigkeit bestand sie auf Tempo und pedantische Korrektheit und mir gelang nichts von beidem.

Wieder seufzte ich auf.
Prüfungszeiten waren schwere Zeiten.
Aber glücklicherweise war es in 2 Wochen vorbei.
Und ich war mir sicher, dass wir dann wieder eine normale Beziehung führen würden.

Mein Blick ging zur Uhr und ich beschloss es für heute gut sein zu lassen.
Ich lag im Zeitplan und für heute war der Ofen aus.
Vielleicht konnte ich Jack zu einer Folge Sherlock überreden.
In Gedanken versunken, sammelte ich meine übrigen Stifte zusammen.
Ein neongelber Textmarker ließ mich kurz stutzen.
Es fehlte die Kappe.
Und nach eingehender Untersuchung meines Schreibtisches ließ es den Schluss zu, dass hier eine Entführung vorlag.

Der Kreis der Verdächtigen umfasste nur einen Namen.
“Ohnezahn?” rief ich halblaut durch die Wohnung.
Ohne jede Erwartung einer Antwort ging ich in den Flur.
Wäre er in meinem Zimmer gewesen, hätte er mich das wissen lassen, daher vermutete ich ihn auf seinem Lieblingsplatz im Wohnzimmer vorzufinden.
Und tatsächlich saß das schwarze Tierchen betont gleichgültig auf der Fensterbank.
Tat als würde er mich nicht bemerken.
“Ohnezahn!” lenkte ich seine Aufmerksamkeit auf mich und blieb vor dem Fenster stehen.
Vorsichtig strich ich mit einem Finger über das weiche Öhrchen.
Der kleine Kopf wandte sich mir zu.
“Na? Wohin hast du die Kappe verschleppt?
Katzentypisch arglos sah er mich aus großen Augen an.
“Jaaaa.. was hab ich auch erwartet” ich ließ meine Hand vom Ohransatz zum winzigen Kinn wandern und kraulte das Köpfchen, dass sich nun genießerisch in meine Handfläche drückte.
Es gab nur zwei Orte an die dieser Kater seine Beute schleppte.
Wenn man irgendetwas in dieser Wohnung vermisste, fand man es in aller Regel hinter dem orangefarbenen Sofakissen, oder in der Küche bei dem Zwiebelkorb.

Das Schnurren der kleinen Katze vibrierte leicht in meinen Fingerspitzen, während ich durch das weiche Fell fuhr.
“Hast heute schon einem Bleistift den Garaus gemacht, musstest du denn unbedingt noch die Kappe haben? Hast sie bestimmt zerkaut, hm?”
Ohnezahn sah mich wissend an.
“Na, hervorragend”

Hinter mir betrat Jack das Wohnzimmer und kaum, dass ich schnell genug gucken konnte, war das Katzentier von der Fensterbank gesprungen und im Flur verschwunden.
Mein Blick folgte ihm, jedoch nur kurz, denn mein Mitbewohner strahlte mal wieder diese ungeduldige Präsenz aus, die immer von ihm ausging, wenn er etwas zu verkünden hatte.
Sein Gesicht sprach, nein, schrie vor Schadenfreude und innerlich machte ich mich auf das Schlimmste gefasst.
“Was?” ich musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue.
Der junge Mann mit den schneeweißen Haaren ließ sich auf das Sofa fallen.
Mit einem Grinsen, das ihm die Züge einer Comicfigur verlieh, sah er zu mir hoch.

Das einzige was Jack von einem alten Waschweib unterschied, war das Alter und das Geschlecht.
Ansonsten hätte ihm eine Kittelschürze und der neueste Klatsch und Tratsch sicher besser gestanden, freute er sich doch geradezu diebisch über das Elend anderer.

“Ey, Kristoff ist sowas von am Arsch” begann er mit einem Aufmacher seine Story.
In letzter Zeit waren sich die Schwestern oft uneins gewesen und der arme Junge stand quasi immer zwischen den Fronten.
Meine Verwunderung über diese Info hielt sich daher in Grenzen. Auch wenn Jack sich sicher eine andere Reaktion gewünscht hätte.
“Was ist jetzt wieder?” brummte ich.
Das Grinsen auf dem Gesicht meines Mitbewohners ging in ein Glucksen über.
“Anna ist schwanger”.

Hiccstrid FanficWhere stories live. Discover now