52 - Altrosa

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▷ alt-J - Hunger Of The Pine ◁


Der Kaffee schmeckt bitter, stark. Er wärmt mich von innen, während ich neben Noah auf dem kühlen Sand sitze und dem Wind entgegenblicke. Das Meer vor uns ist wild, rau. Die Wellen brechen, als sie den Strand erreichen. Manchmal komme ich mir vor wie eine Welle, die immer und immer wieder am Strand zerbricht. An der Härte der ihr entgegengesetzt wird. An dem Leben.


Tief atme ich den salzigen Duft des Meeres ein, spüre, wie die Luft meine Lungen füllt. Ich habe seit Tagen keine Zigarette mehr geraucht und ich merke, dass auch Noah immer weniger raucht. Denn wir sitzen beide hier, ohne einen dieser tödlichen Glimmstängel in der Hand. Stattdessen halte ich die seine und streiche mit meinem Daumen immer wieder über seinen Handrücken, auf dem sich feine Adern abbilden. Seine Hand ist größer als meine, rau und warm, während meine - wie immer - eiskalt ist.

Noah wirft mir einen Seitenblick zu. "Dir ist kalt. Wir sollten reingehen."

Ich schüttle bestimmt den Kopf. "Nein, ich möchte hier bleiben."

Er schnaubt. "Trotz deiner Angst vor dem Wasser möchtest du hier bleiben?", erkundigt er sich und drückt meine Hand.

Mein Mund ist trocken. Ich weiß, worauf er anspielt. Nach all den Gesprächen habe ich ihm immer noch nichts von dem Vorfall erzählt. Mein Herz pocht nervös in meiner Brust, vor Angst, dass auch er das Ganze nicht schlimm findet und vielleicht sogar denkt, ich würde übertreiben.

"Dalí?" Er rückt näher an mich und streicht mir über meine Wange.

Abwesend lehne ich mich an seine Schulter und atme die Mischung aus seinem Geruch und dem des Meeres ein. Inzwischen liebe ich es, dass er sich diesen Kosenamen für mich ausgesucht hat. Einen für ihn zu finden ist gar nicht so einfach - auch wenn 'Grummelbärchen'  ziemlich weit oben auf der Liste steht. Ich grinse, aber da sich zwischen uns eine angespannte, erwartungsvolle Stimmung aufgebaut hat, vergeht es mir wieder sehr schnell. Mein Mund ist immer noch trocken und so schlucke ich hart, ehe ich mich räuspere.

"Ich habe es noch nicht erzählt. Ich weiß. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Weil ich denke, dass ich übertreibe. Bestimmt ist es gar nicht so schlimm." Ich spreche hektisch, verschlucke fast alle Worte.

"Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht möchtest. Aber wenn doch: Ich bin da."

Noch einmal hole ich Luft. "Meine Eltern hatten schon immer viele bekannte mit Häusern am See. Viele Bekannte von ihnen waren so, wie man sie sich vorstellt. Andere waren das komplette Gegenteil - sehr nett und für jeden Spaß zu haben. Und dann gab es da noch die Familie Edelbitter, die ein Haus am Schlachtensee hatten." Ich setze mich gerade hin, halte aber noch immer seine Hand. Er ist wie ein Anker zum Jetzt, der mich aus der Vergangenheit holen kann, wenn ich zu tief darin versinke.

"Ich habe es gehasst bei ihnen, weil ich den Vater nicht mochte. Er war ein zu großer Fan seiner Töchter - die, nebenbei bemerkt schon immer sehr schön waren - und hat ihnen zu oft auf den Arsch geglotzt. Ich war 14 Jahre und gerade frisch in der Pubertät. Der Vater, ich nenne ihn mal Siegfried, war ein sehr überhöflicher Mann, der einen ständig berührt hat, wenn er mit einem gesprochen hat." Ich stocke.

Noah holt tief Luft und schürzt die Lippen. Er schüttelt sachte den Kopf und schließt die Augen. Aber er unterbricht mich nicht.

"Wir haben gegrillt, dementsprechend standen alle am Grill herum und warteten auf das Essen. Seine Frau, wir nennen sie Hildegard, grillte, während ihre Töchter den Tisch deckten. Siegfried bat mich, ihn zum Kühlschrank zu begleiten und in meiner Blauäugigkeit bin ich ihm gefolgt. Wir standen alleine in dem Raum, ich nur im Badeanzug und Shorts. Mir war kalt und meine Brustwarzen haben sich aufgestellt. Das hat seine Aufmerksamkeit vollends auf meine Brüste gelenkt. Ich schmücke jetzt nichts aus, okay? Ich muss das jetzt schnell erzählen, sonst rede ich nicht weiter. Er hat mir an die Brust gefasst und meinte: 'Oh, die sind aber schön gewachsen.' - Ich bin weggesprungen, hab ihn geschubst und bin aus dem Raum gelaufen. Seine Tochter, Vanja, kam mir entgegen aber ich habe sie ignoriert und bin weitergelaufen. Direkt auf den Steg auf dem meine Mutter inzwischen mit Hildegard stand. Der Steg war rutschig, also bin ich ausgerutscht - und blieb im Wasser mit dem Fuß in der Schnur für den Rettungsgring hängen, die ziemlich weit unten im Wasser an einem Bein des Stegs befestigt war. So hing ich fest und konnte mich nicht befreien und wurde immer wieder von dieser Schnur nach unten gezogen. Ich war starr vor Schreck - klar, ich hätte mich sicherlich befreien können, aber ich stand unter Schock. Es ging einfach nicht. Ich hatte keine Kraft.

NOAH | ✓Donde viven las historias. Descúbrelo ahora