36 - Graphitschwarz

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Vorsicht, Kapitel könnte triggernd wirken!

▷ Twenty One Pilots - Goner ◁

Schweigen legt sich über den Rest der Gruppe. Ich merke Leonies Blick auf mir, ich sehe auf. Sie mustert mich besorgt und hat die Stirn in Falten gelegt. Dann sehe ich auf Frau Eichendorf, die etwas auf ihrem Block notiert und gedankenverloren auf ihrer Unterlippe herumbeißt. Gerade als sie den Stift zur Seite legt, sehe ich weg und finde Noahs Blick. In seinen Augen ziehen wütende Gewitterwolken über den Himmel. Ich ertrage das alles nicht mehr. Nichts mehr von alldem.

Der Stuhl kracht gegen das Bücherregal hinter mir, als ich aufstehe.

"Lia", meint Leonie leise, doch ich schalte auf Autopilot.

Das, was ich jetzt brauche besteht nicht aus Worten. Es besteht aus einer Rasierklinge und meinem Arm. Einen klitzekleinen Moment denke ich darüber nach, zum Medizinischen Dienst zu gehen und um Hilfe zu bitten. Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Ich muss das jetzt tun.

Ich bin eine einzige riesengroße Enttäuschung für meine Mutter - und mit Sicherheit auch für meinen Vater. Ich habe nichts zustande gebracht, nichts erreicht, bin fett, hässlich und anstrengend - und darüber hinaus auch noch psychisch krank. Eine super Kombination, wirklich perfekt. Kein Wunder, dass meine Eltern nicht stolz auf mich sein und mich nicht lieben können. Und wenn meine Eltern mich nicht lieben können - wie soll es je jemals jemand anderes tun? Wie soll ich es jemals tun? Warum auch? Ich habe es nicht verdient. Ich bin ein hässlicher schwarzer Fleck im Lebenslauf der Menschen, denen ich begegnet bin. Mich vergisst man schnell, ich bin ersetzbar, nicht wichtig. Meine Eltern würden mich sofort zurückgeben, könnten sie es tun - und mich gegen eine bessere Version austauschen.


"Dalí", Noah springt auf, aber ich bin schneller aus der braunen Tür raus als er und laufe in den Keller.


Weg von allem. Weg von den Menschen. Weg vom Lärm. Weg von sturmblauen Augen, die mir ansehen, wenn etwas in mir kocht. Ich muss aufpassen, dass ich die Stufen nicht hinunterfalle, so schnell versuche ich zu fliehen. Inzwischen habe ich meine Klinge immer mit dabei und sicher versteckt. Im Keller befinden sich ebenfalls Toiletten und ich begebe mich nun in die Damentoilette. Von innen sperre ich zu und stehe nun vor dem Waschbecken, über dem eine flimmernde Lampe befestigt ist. Sie würde perfekt in einen Horrorfilm passen. Kurz lache ich auf. Mein Leben ist ja ein einziger Horrorfilm. Egal was ich anfasse, alles wird schwarz und zerbricht in tausend Teilen. Und zerbreche ich meine Haut.


Ich lehne mich gegen die Wand neben dem Waschbecken und schließe kurz die Augen, um nicht mehr das viele Rot zu sehen. Irgendwas ist komisch, so weh hat es noch nie getan. Auch wenn ich mich jetzt wieder spüre, so wirklich gebracht hat es meinem Herzen nichts. Ich bin immer noch verletzt, wütend, traurig, aufgewühlt. Vielleicht ist diese Scheiße doch nicht der richtige Weg, um seine Gefühle zu beruhigen und wieder etwas zu fühlen. Ich hätte diesen dummen Notfallkoffer ausprobieren sollen. Kopfschüttelnd sehe ich mich im Spiegel an und möchte am liebsten kotzen. Kein Wunder, dass mich niemand mag.


Jemand versucht, die Tür zu öffnen und rüttelt wie wild an der Klinke. Ich bin dankbar, dass ich daran gedacht habe, die Tür zu verschließen. Die Luft anhaltend versuche ich so still wie möglich zu sein.

"Dalí, ich weiß, dass du da drin bist. Mach die Tür auf."

Mein Herz schlägt nervös in meiner Brust und mir wird schlecht. Verzweifelt und panisch sehe ich auf meinen linken Arm, er ist voller Blut. Schnell werfe ich einen suchenden Blick nach Handtüchern oder Toilettenpapier und greife schließlich nach den Papierhandtüchern aus dem Spender. Krampfhaft versuche ich, all das Blut vom Boden aufzuwischen.

NOAH | ✓Where stories live. Discover now