29 - Silbergrau

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▷CLOVES - Don't Forget About Me ◁


"Herr Eisold, ich finde es wirklich großartig, dass Sie heute Ihre Geschichte hier erzählt haben und uns daran teilhaben lassen. Es ist ein äußerst großer Schritt. Und auch wenn sie im Moment das Gefühl haben, an ihren Gefühlen zu ersticken, es hilft. Sprechen hilft."

Noah nickt und wischt sich die Tränen vom Gesicht. Er wagt es nicht, aufzusehen und fährt sich nun verloren durch seine Haare, die ihm jetzt wirr vom Kopf abstehen. Das Dunkelbraun erinnert mich an den Herbst, der momentan noch gefühlt fünf Jahre von uns entfernt ist, so heiß wie es im Moment ist. Und doch sehne ich mich nach weitaus kühleren Temperaturen, den ganzen vielen bunten Blättern, meinem Pulli den mir Oma gestrickt hat, dem erdigen und frischen Geruch des Waldes und Halloween, nach Kürbis schnitzen und Verkleiden. Noah zieht die Nase hoch und holt tief Luft. Er füllt seine Lunge regelrecht mit Luft, kurz habe ich Angst, dass er daran erstickt.

"Ich habe nur Angst", gibt Noah leise zu. Seine Stimme ist ein leises Wispern. So sanft und zart wie zitterndes Espenlaub im Wind.

"Wovor?", erkundigt sich die Therapeutin und schlägt die Beine übereinander.

"Vor den ganzen beschissenen Dämonen, die mir auflauern. Wenn man etwas ausspricht, dann wird es so unendlich wahr. Und das macht mir Angst."

Ich mustere das Bild, das Noah gemalt hat, und bin nach wie vor fasziniert von seinem Talent.

"Es wird wahr. Das stimmt. Aber wenn man es ausspricht, dann schwindet die Kraft der Dämonen auch immer ein Stückchen mehr. Weil man ihnen keinen Raum gibt. Weil man die Worte ausspricht und sie mit dem hellen Licht konfrontiert, das außerhalb des Kopfes ist. Wenn sie ausgesprochen werden, dann werden sie gehört und sie werden geteilt - und das heißt, dass es jemanden gibt, der die Dämonen mit dir bekämpft." Meine Stimme zittert, weil ich verhindern will, dass er verschwindet und unsichtbar wird, weil er sich zurückzieht und die Dunkelheit ihn mit sich reißt.

Noah sieht mich nun an, sein Blick ist verloren und so voller Trauer, dass ich das Gefühl habe, er ertrinkt darin. Ein kleines, ganz schwaches Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, das aber mit einem Wimpernschlag wieder verschwunden ist. Aber er nimmt den Blick immer noch nicht von mir. In seinen sturmblauen Augen sammeln sich silbergraue Regentropfen, die sein wunderschönes Gesicht in Nässe tauchen.

"Vielleicht rufst du deine Mama an?" Anett beugt sich vor und unterbricht unser Starren.

Er nickt. "Ja, vielleicht sollte ich das tun."

"Herr Eisold, brauchen Sie nach der heutigen Sitzung ein Krisengespräch? Sie wissen ja, wir sind für Sie da." Herr Dr. Vitas sieht ihn eindringlich an.

Wieder nickt er und schüttelt kurz darauf den Kopf. "Ich muss erstmal nachdenken und runterkommen. Aber ich glaube, es hat mir schon ein bisschen geholfen, dass ich heute gesprochen habe; dass ich mich geöffnet habe. Bitte lacht mich nicht aus, weil ich geweint habe."

"Niemand wird hier ausgelacht, weil er weint." Frau Mechter hebt mahnend den Zeigefinger und lächelt sanft. "Gut, dann beenden wir die heutige Sitzung an dieser Stelle. Bitte geben Sie aufeinander acht und sollten Sie sich um ihre Mitpatienten Sorgen machen, scheuen Sie sich nicht, sich an das Pflegepersonal zu wenden - dafür sind wir da!"


Es dauert keine zwei Sekunden und Noah ist zur Tür hinausgerannt. Sofort überflutet mich eine Welle an Sorge, aber ehe ich ihm nacheilen kann, werde ich von Frau Mechter zurückgehalten.

"Frau Großmann, bitte bleiben Sie doch noch kurz."

Ich schlucke und nicke. Schweigend warten wir, bis auch der letzte Patient das Zimmer verlassen hat. Verloren sitze ich auf meinem Stuhl und wackle nervös mit den Füßen.

NOAH | ✓Where stories live. Discover now