26 - Blassbraun

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Vorsicht! Das Kapitel könnte an einigen Stellen triggernd wirken!

▷ Elliot Moss - Without The Lights◁

Noahs Geständnis liegt mir so schwer im Magen, dass an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken ist. Kurz nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, verließ er fluchtartig das Raucherzimmer und ließ mich im grauen Nebel zurück. Ich werfe einen Blick auf mein Handy um die Uhrzeit zu lesen. Es ist inzwischen kurz vor halb fünf. In zwei Stunden müsste ich sowieso aufstehen, also kann ich genauso gut wach bleiben. Aus diesem Grund beschließe ich, mich zu duschen und dann in den Speisesaal zu gehen.

Leise schlüpfe ich, frisch geduscht, aus dem Zimmer und versuche so wenig Geräusche wie möglich zu machen, als ich durch die Klinik laufe.

"Frau Großmann!" Herr Vladic' Flüstern unterbricht meine fast unmögliche Mission.

Ich drehe mich auf dem Absatz um und sehe in sein fragendes Gesicht.

"Entschuldigen Sie, ich kann nicht schlafen. Und ich will meine Zimmernachbarin nicht aufwecken."

Er nickt. "Brauchen Sie etwas?"

Ich schüttle den Kopf und lächle kurz. "Nein, danke."

Die Schritte eines Patienten sind zu hören und ich winke dem Pfleger zum Abschied.

"Herr Eisold, was ist los - können Sie auch nicht schlafen?"

Wie von Blitz getroffen bleibe ich stehen und drehe mich langsam um. Noah steht mit dem Rücken zu mir. Seine Hände zittern.

"Kommen Sie herein." Herr Vladic öffnet die Tür ganz.

Bevor Noah den Raum betritt, wirft er mir einen Blick zu. Er wirkt verletzt, traurig und unendlich allein. Von dem einst so überheblichen, eingebildeten Idioten ist gerade so gar nichts mehr zu sehen.


Die Tür des Speisesaals quietscht, als ich sie öffne. Nur ein kleines Deckenlicht brennt und taucht den großen Raum in unheimliches Licht. Die Welt außerhalb der Klinik wird langsam wach und plötzlich habe ich den großen Drang, nach draußen zu gehen. Es ist kurz nach 06:00 Uhr und die Türen sind bereits wieder geöffnet. Kalte, frische Morgenluft strömt mir entgegen und füllt meine müden Lungen. Ich atme tief ein und lausche der Stille. Sie ist friedlich - oder trügerisch. So sicher bin ich mir gerade nicht. Langsam lasse ich mich auf den kalten Stufen nieder und betrachte das große Gelände, das sich vor mir erstreckt. Das Gras ist nass vom Tau, in den einzelnen klitzekleinen Wassertropfen spiegelt sich die aufgehende Sonne, die mit ihren Strahlen die Natur langsam aufweckt und sanft liebkost. Die blassbraune Rinde der Bäume liegt noch im Schatten der anderen Bäume. Die Tür zum Speisesaal öffnet sich und ich weiß auch, ohne hinzuschauen, wer mir Gesellschaft leistet.

Er setzt sich schweigend neben mich und zündet sich eine Zigarette an. Ich werfe ihm einen Blick zu. Seine Kiefer mahlen. In seinen Haaren befinden sich Wasserperlen, auch er hat anscheinend geduscht. Das würde zumindest den Duft erklären, der ihn umgibt. Er riecht nach Wald. Und nach irgendwas anderem. Er würdigt mich keines Blickes, sondern starrt gedankenverloren in den Wald vor uns. Unsere Knie berühren sich leicht und ich habe das Gefühl, als würde ich einen Stromstoß bekommen. Auch ich starre nun in den Wald und schweige mit ihm. Schweigen mit Noah war anfangs unerträglich. Inzwischen ist es sehr angenehm.


Heute ist Mittwoch, was bedeutet, dass der Tag relativ frei ist. Ich habe für mich beschlossen, nicht mehr an der Musiktherapie teilzunehmen. An Mittwochen findet auch keine Millieutherapie statt, weswegen ich mir vornehme, nach dem Frühstück etwas zu malen.

NOAH | ✓Where stories live. Discover now