35 - Telemagenta

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Vorsicht, Kapitel könnte triggernd wirken!

▷ Marilyn Manson - Third Day of a Seven Day Binge ◁

Heute ist der Tag der Tage. Heute findet das Elterngespräch statt. Mir ist so schlecht, dass ich nichts runterbekomme. Selbst beim Kaffee habe ich Angst, dass ich ihn nicht in mir behalten kann. Mir fehlt Aaron, der gestern entlassen wurde. Er hätte mich mit irgendeinem lockeren Spruch abgelenkt und mich kurz auf andere Gedanken gebracht. Aber so sitze ich zwischen den Mitpatienten meiner Millieugruppe und starre auf meinen Teller, auf dem sich ein einsames, nacktes Brötchen befindet und auf seinen Einsatz wartet. Ich schlucke. Mit leerem Magen sollte ich nicht an diesem Elterngespräch teilnehmen. Mit zitternden Händen bestreiche ich die eine Hälfte mit Butter und starre gedankenverloren auf die Käseplatte.

"Von allein hüpft dir der Käse nicht aufs Brötchen, Lia." Anett sieht mich mit warmen Augen an und reicht mir die Käseplatte.

"Danke", murmle ich leise und konzentriere mich wieder auf den Käse.

Kurz sehe ich auf die Uhr. Noch neun Stunden und fünfundzwanzig Minuten, dann ist es so weit. Dann stehe ich meinen Eltern gegenüber, mit Leonie - und vielleicht mit Noah. Seit Montag ist es mehr als eigenartig zwischen uns und ich kann gar nicht so viel essen wie ich kotzen könnte, weil dieser Fast-Kuss passiert ist. Noah war aufgewühlt und brauchte Schutz oder Ablenkung. Da kam ich gerade recht. Ich seufze und wie von selbst suchen meine Augen seinen Blick. Er ist in einem angeregten Gespräch mit Leonie, beide lachen. Selbst von hier kann ich seine Grübchen sehen. Oder ich weiß inzwischen, wo sie sind und kann sie erahnen. Mein Magen grummelt und ich schiebe den Teller wieder von mir. Er knallt gegen die Kaffeekanne. Ergeben warte ich, bis die Zeit gekommen ist und ertrage den Tag mehr, als ich ihn erlebe. Ich vergrabe mich in meinem Bett und ziehe mich zurück.


Es ist schließlich 16:20 und in wenigen Minuten würden die Tore zur Hölle geöffnet. Nur, dass diesmal keine Winchesterbrüder unterwegs sind, um die Welt zu retten. Ich muss das ganz alleine machen.

"Hey!" Leonie stellt sich neben mich an die Wand.

Oder vielleicht muss ich es auch nicht alleine machen. Mein Herz wird ein Stück fröhlicher, bei dem Gedanken, dass sie dabei ist.

"Hey", entgegne ich leise und werfe ihr einen kurzen Blick zu.

Die Tür zur Klinik wird geöffnet und ich höre meine Mutter bevor ich sie sehen kann. Ihre Stöckelschuhe hallen im ganzen Foyer und Flur wider. Suchend sehen sich meine Eltern um, bis sie mich schließlich entdecken. Der Gesichtsausdruck meiner Mutter könnte missbilligender nicht sein. Abschätzend und unverhohlen mustert sie Leonie. Mein Vater gibt ihr die Hand und setzt zumindest ein freundliches Gesicht auf. Wenige Minuten später taucht Frau Eichendorf auf und schließt die Tür zum Therapieraum auf.

Leonie und ich nehmen nebeneinander Platz, sie sitzt links von mir. Der Platz rechts von mir ist leer, weil eine ganz leise, zarte Hoffnung in mir noch nach Noah schreit. Verloren sehe ich mich im Zimmer um. Es ist bis oben hin vollgestellt mit Schränken und Bücherregalen, die teilweise so vollgestopft sind, dass sie die Bücher in zwei Reihen aufstellen mussten. Es riecht alt und leicht muffig. Die Stühle sind an der braunen Wand entlang aufgestellt. Durch das Fenster ist die Sonne zu erahnen, die die Bäume draußen in helles Licht taucht. Meine Eltern sitzen gegenüber von mir. Frau Eichendorf zwischen ihnen und mir an der Wand. Meine Therapeutin sieht auf die Uhr, wirft dem Platz neben mir einen fragenden Blick zu und räuspert sich schließlich. Noah ist nicht gekommen.

Doch gerade als sie sprechen will, wird die Tür aufgerissen.

"Entschuldigen Sie bitte, tut mir leid, Lia, ich wurde aufgehalten." Noah steht in der Tür, seine Haare sind verwuschelt und er sieht abgehetzt aus. Fast könnte er meinen, er hätte mit irgendjemandem geschlafen. Komischerweise gibt mir der Gedanke einen Stich.

NOAH | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt