20 - Granitgrau

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▷ Jacob Lee - Demons ◁

Den Sonntag verbringe ich mit Schokolade und meinem Buch im Bett. Es regnet schon wieder - aber das ist genau das richtige Wetter für den Aufenthalt im Zimmer. Durch das gekippte Fenster strömt die frische, erdige Luft und das leise trommelnde Geräusch des Regens. Ich verschlinge 'Die Bücherdiebin' und weine unendlich viele Tränen. Aber das Weinen tut gut. Ich weine um die Charaktere der Geschichte. Und ich weine noch mehr, als mir eiskalt bewusst wird, dass das alles wirklich passiert ist. Viel zu schnell verschließt man die Augen vor der kalten Realität, verdrängt all diese schlimmen Ereignisse, diese hässliche Geschichte die unser Land hat. Und dann trifft es einen wie ein Pfeil mit 140 Stundenkilometern. Mein Bett ist umgeben von einem Meer aus Taschentüchern, ich lache kurz auf, als ich es sehe. Menschen können so grausam sein, so unendlich grausam. Ich bin immer versucht, in jedem Menschen etwas Gutes zu sehen; die Hintergründe zu erkennen und zu verstehen. Aber bei manchen ist es einfach zu spät. Manche Menschen sind von Grund auf böse und wollen ihren Mitmenschen Schaden zufügen. Andere wiederrum haben Gründe warum sie ihre Mitmenschen so behandeln, wie sie sie eben behandeln. Noah stiehlt sich in meinen Kopf und wieder frage ich mich, was ihm passiert ist, dass er sich so verhält. Interessanterweise verhält er sich ja nicht allen gegenüber so. Leonie kann er ja offensichtlich leiden. Gut, sie ist auch wunderschön und liebenswert. Ich seufze und lehne meinen Kopf gegen die Wand. Wie schnell alles manchmal vorbei sein kann, wie schnell man Menschen verlieren kann, weil irgendjemand entschließt, Menschen zu töten. Mich überfällt Angst. Auch wenn ich meine Eltern nicht so liebe wie man sie als Kind vermutlich lieben sollte, ich habe Angst, sie zu verlieren. Weil sie immer noch meine Familie sind; meine Wurzeln. Es ist nicht das beste Fundament auf dem mein Haus gebaut ist, aber man könnte es immer noch renovieren.

Meine Freude ist groß, als Leonie abends endlich wiederkommt und aufgeregt erzählt sie mir von ihrem Date. Er wirkt nett, der junge Mann, den sie getroffen hat. Und sie wirkt sehr glücklich. Ich wünsche ihr, dass es so bleibt.


Nun stehe ich früh morgens vor der Klinik und warte, mit den anderen Patienten, auf den Bus, der uns zum Reiterhof bringt. Noah ist noch nicht da, selbst, als der Bus eintrifft und Frau Kadera aussteigt. Gerade als wir losfarhen wollen wird die Tür des Haupteingangs aufgerissen und Noah stürmt heraus. Ich sitze vorne, weil ich heute lieber für mich sein will. Noah steigt ein und wir fahren los.

"Vielleicht wäre es ratsam, wenn Sie jemand beim nächsten Mal aufweckt." Frau Kadera dreht sich im Sitz um und sieht ihn mahnend an.

Doch Noah grummelt nur irgendetwas Unverständliches und hüllt sich anschließend in Schweigen. Die anderen unterhalten sich angeregt. Mir ist es zu laut und ich ziehe die Schultern hoch. Ich freue mich auf Amadeus, aber irgendwie ist mir auch schlecht. Das liegt aber mit Sicherheit an der kurvigen Straße und nicht an der bevorstehenden Zeit mit Noah. Es ist komisch, weil ich nicht weiß, wie ich mit ihm umgehen soll. Er hat Momente, in denen ist er netter, freundlicher - und dann hat er wieder seine absoluten Arschlochmomente. Ich weiß nie, welches Exemplar mir gegenübersteht und ich habe es satt, ständig leichte Nervosität zu verspüren. Weil ich nicht weiß, wie er drauf ist. Das Komische ist, dass er sogar sehr nett sein kann, wenn er möchte. Wie am Mittwoch, als er mir den Schokoriegel auf mein Tagebuch gelegt hat. Oder am Donnerstag, als wir vor dem Merkur standen. Oder am Freitag, als ich ihm seine Zigaretten vorbeigebracht hat und ich die Farbe an seinen Händen entdeckt habe. Es scheint, als würde er klarer werden, weniger von Aggression und Hass durchtränkt. Ich habe ein bisschen die Hoffnung, dass es besser wird. Natürlich erwarte ich nicht, dass wir Freunde werden - aber vielleicht kann er mich irgendwann so akzeptieren wie ich bin und behandelt mich nicht mehr wie etwas Abstoßendes. 

Der Wagen hält, ich steige aus und atme erstmal tief den intensiven Geruch des Reiterhofes ein. Müde fahre ich mir mit den Händen über mein Gesicht. Aber auch das hilft mir nicht. Vielleicht macht mich der Kontakt zu Amadeus endlich wach.

NOAH | ✓Where stories live. Discover now