41 - Staubgrau

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Vorsicht - Kapitel könnte triggern!

▷ Nothing But Thieves - Honey Whiskey ◁

Am nächsten Morgen stehe ich verschlafen vor dem Spiegel und bin gleichzeitig so hellwach, als hätte ich irgendwelche Drogen konsumiert. Aber das habe ich nicht. Ich wurde nur geküsst. Nur. Dieses kleine Wort hebelt die ganze Wucht des Kusses aus, relativiert sie. Und das ist falsch. Ich wurde geküsst. Von Noah. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Ich kann es immer noch nicht richtig glauben und schüttle sachte den Kopf. Mit meinen Fingern fahre ich mir über meinen Mund. Ich habe Noah geküsst. Und es war großartig. Noch immer werden meine Knie weich, wenn ich an gestern Abend denke.

Als ich aufgewacht bin hat Betty schon längst das Zimmer verlassen. Ich weiß nicht, wie ich ihr unter die Augen treten sollte, immerhin hat sie uns beim Küssen erwischt. Meine Angst, dass sie einem Therapeuten davon erzählt, ist groß und dämpft die Freude über den Kuss.


Heute ist mein Abschlussgespräch mit Frau Eichendorf. Wir haben über meinen Plan nach der Therapie gesprochen und jetzt sitzt sie mir gegenüber und schlägt die Beine übereinander. Ihr Blick ist streng und ich habe plötzlich große Angst, dass Betty geplaudert hat.

"Frau Großmann, ich möchte Ihnen Feedback geben." Sie streckt den Rücken durch und ihr Blick wird weicher. "Sie haben in den letzten drei Monaten einen großen Wandel vollzogen. Sie haben so viel über sich gelernt und sind in so vielen Momenten über sich hinausgewachsen. Als Sie hier ankamen und wir unser erstes Einzelgespräch hatten, waren Sie ein vollkommen anderer Mensch. Sicher, die Unsicherheiten sich selbst gegenüber loszuwerden, das ist ein Prozess, der Sie noch etwas länger begleiten wird - aber so wie Sie in den letzten Wochen gewachsen sind, habe ich keine Bedenken, dass Sie das schaffen. Sie sind eine verdammt starke Frau mit vielen Talenten und Ressourcen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Kraft. Sie können wirklich stolz auf sich sein." Sie lächelt mich warm an.

Verlegen schlage ich mir die Hände vor mein Gesicht ob des vielen Lobes. "Danke, Frau Eichendorf. Danke für Ihren Beistand und Ihre Hilfe. Ohne Sie hätte ich so manche dunklen Tage nicht durchgestanden. Ich weiß grad nicht was ich sagen soll. Es tut mir leid." Entschuldigend sehe ich sie an.

Doch sie lächelt. "Es ist alles gut, Frau Großmann. Und Sie wissen ja, falls was ist, sind Sie hier jederzeit wieder willkommen."

"Danke. Ich wünsche Ihnen alles Gute."

Wir reichen uns die Hände und dann stehe ich vor ihrem Büro und fühle mich plötzlich ein kleines bisschen verloren.



"Hey, Lia. Gehen wir ein Stück?" Beim Klang der mir sehr wohl sehr bekannten Stimme und der Erinnerung, die vor meinem inneren Auge auftaucht, werden meine Knie weich.

"Woher weißt du, dass ich hier bin?", erkundige ich mich und sehe in seine sturmblauen Augen.

"Ich habe Betty gefragt. Hast du Lust?" Er zeigt auf den Wald hinter uns.

Ich nicke und so schlendern wir schweigend los.



Irgendwann bleibt er stehen und ich muss aufpassen, dass ich nicht in seinen Rücken laufe.

"Mir ist eingefallen, dass ich deine Handynummer noch überhaupt nicht habe. Also, bitte, gib sie ein." Er beißt sich auf die Lippen und grinst.

Ich tippe meine Handynummer ein und speichere mich unter dem Spitznamen, an den ich mich inzwischen schon so sehr gewöhnt habe, dass mir definitiv etwas fehlen würde. Noah nimmt mir das Handy aus der Hand und ruft mich an, damit ich ihn einspeichern kann. Er sieht kurz hinter mich und legt Daumen und Zeigefinger unter mein Kinn. Ich starre ihn an, unfähig, mich zu bewegen.

NOAH | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt