17 - Opalgrün

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▷ Halsey - Hurricane◁


Ich bin aufgeregt, als ich vor der Tür zu unserer Gruppentherapiesitzung stehe. Heute ist das erste Mal und ich sehe, wer alles in meiner Gruppe ist. Mir ist es egal, wer dabei ist. An jedem kann ich nur wachsen. Deswegen stoße ich vorsichtig die Tür auf und spähe in das Zimmer. Es sind noch nicht alle da, denn einige Stühle sind noch frei. Direkt an der Tür sitzt - wie soll es auch anders sein - meine größte Aufgabe dieses Aufenthaltes: Noah. Er hebt den Kopf und sieht mich an. Als er realisiert, dass ich von nun an auch ein Teil dieser Gruppe bin, legt er den Kopf in den Nacken und seuftz.

"Wow. Du bist echt eine Aufgabe für mich, oder?" Er klingt genervt und ich wünschte mir, ich könnte mich irgendwo verstecken. Auch wenn er heute vor dem Mittagessen fast irgendwie Partei für mich ergriffen hat - das ändert nichts an der Tatsache, dass er sich mir gegenüber unmöglich verhalten hat und sichrlich kein großer Fan von mir ist. Wie niemand. Ich verstecke meine Hände in den Ärmel meines Pullis und wünschte, ich könnte auch mich verstecken. Könnte wieder unsichtbar sein.

Noah sieht mich immer noch an und das macht mich irgendwie ziemlich nervös. Deswegen zucke ich nur mit den Schultern und setze mich so hin, dass ich nicht in seiner Nähe bin. Der Raum füllt sich immer mehr. Aber weder Leonie noch Aaron oder Torben betreten den Raum. Und irgendwie bin ich froh, dass ich nur mit Menschen in der Gruppe bin,  die ich in meiner Therapiefreizeit nicht um mich habe. Gut, Noah schon. Aber das ja eher unfreiwillig. Das Zimmer füllt sich mit Schweigen und ich nutze die Zeit um mich umzusehen. Wir befinden uns im Gruppenraum der Merkurgruppe. Der Gruppe, der Noah, Leonie und auch Kati angehören. Gerade als ich an sie denke, entdecke ich sie am anderen Ende des Zimmers, gegenüber von Noah. Gedankenverloren spielt sie mit ihren Haaren und starrt auf den Boden. Die Wände des Zimmers sind weiß, wobei eine Wand silbern gestrichen ist. Auf einer der weißen Wände ist der Merkur zu sehen. Irgendein begabter Künstler hat ihn gemalt, inmitten des Universums. Die Stühle des Zimmers sind aus Rattan, und entgegen aller Erwartungen sehr bequem. Erneut öffnen sich die Zimmertüren und hereinkommen die zwei Therapeuten der Gruppe, Frau Mechter und Herr Dr. Vitas. Frau Mechter trägt einen opalgrünen Pulli, der ihre braunen - teilweise mit grauen Strähnen durchzogenen - Haare und braunen Augen hervorragend zum Leuchten bringt. Sie hat einen strengen Gesichtsausdruck, aber wirkt so - wie es meine Oma ausdrücken würde - als hätte sie Schalk im Nacken. Herr Dr. Vitas hat bereits mehrere graue Strähnen in den Haaren, aber sieht wesentlich weniger streng aus als Frau Mechter. Beide setzen sich auf die letzten beiden leeren Stühle und sehen kurz in die Runde.

"Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Herr Dr. Vitas meinte, er müsse unbedingt noch einen Kuchen essen bevor die Gruppentherapie beginnt." Frau Mechters Stimme ist rau und tiefer als erwartet.

Herr Dr. Vitas zuckt nur mit den Schultern. "Heute habe ich einfach einen Kuchen gebraucht. Manchmal ist das so."

Innerlich nicke ich. Sein Blick fällt auf mich. "Oh, wie ich sehe, haben wir zwei neue Mitglieder in der Runde. Möchten Sie sich vielleicht vorstellen?"

Ich kotze, denn ich hasse Vorstellungsrunden einfach so sehr, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Daran hat sich auch nach dem vierten Mal Vorstellen nichts geändert. Kurz zuckt mein Blick zu Noah, doch dieser starrt nur unbeirrt in den Boden. Toll, dann muss ich wohl den Anfang machen. Gerade noch kann ich ein Stöhnen unterdrücken.

"Ich bin Lia Großmann, 20 und komme aus Charlottenburg-Wilmersdorf, hier in Berlin. Meine Hobbies sind Kunst, Lesen und Schreiben. Oh, und Musik."

Frau Mechter nickt und wirft Herrn Dr. Vitas einen Blick zu. Super, jetzt lästern sie auch schon ohne Worte über mich.

Herr Dr. Vitas holt laut Luft, so laut, dass ich es auch höre und sieht mich an. "Das ist ja interessant, Frau Großmann. Aber das haben Sie schon in der Aulagruppe erzählt. Wir sind eine Therapiegruppe. Hier geht es tiefer in die Substanz. Erzählen Sie doch, warum Sie hier sind." Er lächelt mich aufmunternd an.

NOAH | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt