34 - Currygelb

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▷ Unkle - When things explode ◁

Die Nacht ist der pure Horror, ich schlafe kaum, denn immer wieder muss ich an den Moment mit Noah vor dem Klinikgebäude denken. Immer wieder wünschte ich mir, ich hätte mich ein paar Milimeter vorgebeugt, denn dann hätten wir uns geküsst. Andererseits kann ich einfach nicht glauben, dass er mich küssen wollte. Er. Mich. Derjenige, der mich am Anfang als nicht schön bezeichnet hat, der mir klar und deutlich zu verstehen gegeben hat, wie wenig er von mir hält; wie wenig ich wert bin. Und doch wollte er mich küssen. Kann das wahr sein? Dass er sich zu mir hingezogen fühlt? Ein verzweifeltes Lachen fliegt leise über meine Lippen und ich würde mir am liebsten die Haare ausreißen.

Ich liege auf dem Rücken in meinem Bett und starre an die dunkle Decke. Immer wieder schüttle ich den Kopf und versuche, die hoffnungsvollen Gedanken wieder ganz tief in meinem Kopf zu verstauen. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken daran, dass mir nach dem Aufstehen die Reittherapie bevorsteht und ich mich Noah entgegenstellen muss. Und der Gedanke, dass die kommende Woche das Elterngespräch stattfinden wird, macht es nicht besser. In keinster Weise. Leonie hat bereits zugesagt, mir beizustehen. Und auch Noah hat gesagt, dass er hinter mir steht. Aber nach den jüngsten Ereignissen wage ich genau das zu bezweifeln. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum es mich so verrückt macht. Es ist nichts passiert. Und es hatte auch nichts zu bedeuten. Es hatte rein gar nichts zu bedeuten.

Das leicht goldene Licht des Vollmondes scheint durch die offenen Vorhänge über meinem Bett. Ich genieße es, den dunklen Nachthimmel zu beobachten, wenn ich nicht schlafen kann. Sterne geben mir immer das Gefühl, dass ich klein bin und dass auch meine Probleme klein sind. Und dass es nichts gibt, was man nicht schaffen kann. Die Sterne dort oben haben bereits so viel Leben auf diesem Planeten gesehen, was kümmert sie meines? Und sie geben mir Hoffnung. Hoffnung, dass dort draußen irgendjemand ist, der mich versteht und mich liebt, wie ich bin.

Leonie stört es nicht, wenn der Vorhang auf ist und ihre leisen Schlafgeräusche wiegen mich in Sicherheit. Ich möchte nicht daran denken, was ist, wenn sie nicht mehr hier ist. Ich seufze. Ich bin hellwach. Oder besser gesagt: Mein Kopf ist hellwach, mein Körper ist müde. Meine Hände fahren über den leicht rauen Stoff der Bettwäsche und ich atme den Duft des Waschpulvers ein. Leise stöhnend schnappe ich mir mein Handy vom Nachtkästchen, um die Uhrzeit zu überprüfen. Es ist halb fünf. Nur noch ein bis zwei Stunden und ich könnte endlich aufstehen und vor meinen Gedanken fliehen. Das grelle Licht des Bildschirms blendet mich mehr als ein direkter Blick in die Sonne, weswegen ich den Bildschirm des Handys schnell wieder ausschalte.


Ich schlage die Augen auf, ich muss eingeschlafen sein. Leonie liegt noch in ihrem Bett und schläft. Dann fällt es mir siedend heiß ein: Die Reittherapie! Eilig greife ich nach meinem Handy und seufze schließlich erleichtert auf. Ich habe nicht verschlafen. Aber ich springe dennoch aus dem Bett und mache mich in Windeseile fertig. Das strahlende Licht der Sonne flutet unser Zimmer. Die Kaskaden aus weißen und hellblauen Vorhängen grenzen das Fenster an meinem Bett ein und bilden einen schönen Rahmen für das zauberhafte Morgenlicht. Ich liebe Morgenlicht. Schon so oft habe ich versucht, es auf ein Blatt Papier zu malen, aber nie gelingt es mir, den wirklichen bedeutungsvollen Zauber des Morgens einzufangen. Ein Morgen ist wie ein Neuanfang. Der Tag steht einem noch bevor und man kann alles mit ihm machen was man will. Ähnlich wie mit einem komplett weißen Blatt Papier.

Mit sehr müden Augen und schweren Lidern stehe ich auf dem Parkplatz und warte mit den anderen auf den Transporter, der uns zur Reittherapie bringt. Noah ist noch überhaupt nicht da. Er ist auch noch nicht da, als wir in den Transporter steigen. Und er ist noch nicht da, als wir losfahren. Ich hoffe, es ist nichts passiert. Er hat bis jetzt noch nie die Reittherapie verpasst und sie ist, neben der Maltherapie, eine seiner liebsten Therapien, die hier angeboten werden. Nachdenklich lehne ich meinen Kopf gegen die kühle Scheibe des Fahrzeuges.

NOAH | ✓Where stories live. Discover now