04 - Zinnoberrot

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Vorsicht - das Kapitel könnte an einigen Stellen triggernd wirken!

▷ Glass Animals - Youth ◁


Leonie und ich sind relativ früh im Speisesaal und so erklärt sie mir, wie das mit dem Tischdecken abläuft. Zehn Minuten später sind die Tische unserer beider Gruppen für das Abendessen gedeckt und wir lassen uns entspannt auf die Couch fallen, die in der Ecke steht und von Pflanzen vor neugierigen Blicken geschützt ist.

"Danke, dass du mit mir rumhängst", sage ich leise und ziehe an der überschüssigen Nagelhaut an meinen Fingern.

Sie stupst mich in die Seite. "Aber klar."

Ich werfe einen Blick an die Decke, die mit weißen Platten versehen ist. Sie sind an manchen Stellen grau vor Staub und Dreck. Der Speisesaal ist riesig und beinhaltet vier große Tafeln, an denen die Mitglieder der einzelnen Gruppen Platz finden. Ansonsten gibt es noch die Essensausgabe, an der man sich die Teller, das Besteck und das Essen holen kann. Heute gibt es abends Brot, Wurst, Käse und einen Auflauf. Dazu ein bisschen Gemüse und Obst. So wirklich Hunger habe ich nicht, aber ich habe heute noch nicht so viel gegessen. Also muss ich etwas essen. Hungern soll ja nichts bringen, wenn man abnehmen möchte. Die Couch auf der wir sitzen ist grün und aus Leder. Sie ist sehr groß und entgegen aller Erwartungen sehr gemütlich. Ich fahre mit den Händen über das Leder, es ist kühl und weich an meiner Hand. Leonie sitzt neben mir, die Beine an die Brust gezogen und die Augen geschlossen. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr. Es ist kurz vor sechs und die Gruppenmitglieder trudeln langsam ein. Ich bin neugierig, schließlich sehe ich sie jetzt alle zum zweiten Mal. Und ich bin gespannt, wie die Menschen alle drauf sind. Ich hoffe, sie sind nett.


"Komm, Lia. Es gibt Abendessen." Leonie springt auf und zieht mich mit. Schüchtern folge ich ihr und mustere mehr den Boden als dass ich den Blick hebe und die Leute an meinem Tisch ansehe, zu denen ich mich nun setze.

"Hallo. Lia, richtig?" Eine Frau, ich schätze sie auf 40, reicht mir den Brotkorb und sieht mich aufmunternd an. Ich nicke nur. "Danke."

Das Essen schmeckt ganz gut und ich überstehe die anfänglichen peinlichen Smalltalkversuche. Am Nachbarstisch wird gelacht und automatisch habe ich Angst, dass über mich gelacht wird. Irgendwann bezieht man Blicke und Lachen immer auf sich, wenn man so verdammt unsicher ist und ein Selbstbewusstsein in der Größe einer Made hat.

Als ich fertig bin, stehe ich auf um meinen Teller wegzubringen. Eigentlich hätte ich es schon wissen müssen, ehe ich aufgestanden bin, dass der Zeitpunkt falsch war. Denn natürlich steht Noah zeitgleich mit mir auf. Er ist zuerst bei der Essensausgabe und bringt seinen Teller zurück. Und natürlich laufe ich voll in ihn hinein. Und selbstverständlich landet die eine Scheibe Tomate, die ich nicht mehr gegessen habe, auf seinem weißen T-Shirt. Im Saal ist es plötzlich still. Nur das Scheppern des Tellers auf dem Boden ist noch zu hören.


"Upsi", wispere ich leise.

Noah steht einfach nur da und sieht mich an.

"Das kann einfach nicht dein Ernst sein. Verdammt. Wie dumm bist du eigentlich? Ich fass es einfach nicht. Das ist ein Tommy Hilfiger-Shirt du hässliche Tonne. Du bist es echt nicht wert, dass man seinen Atem an dich verschwendet. Lass mich doch einfach endlich in Frieden, verdammt. Ständig läufst du mir nach. Man könnte fast denken, du stehst auf mich. Als wenn du eine Chance bei mir hättest. Hast du dich schon mal im Spiegel angesehen? Sind die Spiegel noch heile? Wenn ich ein Spiegel wäre, ich wäre in tausend Scherben zersprungen. Warum tust du uns nicht allen einen Gefallen und bringst dich um?" Inzwischen schreit er und ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen treten. Meine Sicht verschwimmt. Wütend beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wangen.

NOAH | ✓Where stories live. Discover now