Kapitel 51

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(Noch immer Millis Sichtweise)

Flink hangle ich mich ins Innere des Wagens und lausche. Von weit hinten ertönt ein leises Wimmern. Schnell eile ich in die Richtung, aus der die Geräusche kommen. Ich steige über Koffer und Jacken, das Schwierigste ist, dass ich über die Toilettenkabine klettern muss, da der Waggon ja auf der Seite liegt. Ich rutsche auf der anderen Seite runter und sehe einen kleinen Jungen auf dem Boden.

„Hey, was machst du denn hier?", frage ich ihn überrascht und knie mich zu ihm. Er schnappt sich sofort meine Hand und hält sich daran fest. „Ich bringe dich jetzt raus, ja?", sage ich ihm und wische ihm eine Träne ab. Er nickt und ich greife ihn mit beiden Armen. Der Junge klammert sich an meinen Hals wie an einen Rettungsanker und will mich gar nicht mehr loslassen. Vorsichtig klettere ich wieder die Kabine der Toilette hoch und lande drüben sicher auf meinen Füssen.

Während ich zwischen Sitzen und diversen Gepäckstücken durchbalanciere, versuche ich mit dem Jungen Kontakt aufzunehmen. „Wie heisst du denn?" „Finn." „Alles klar Finn, ich heisse Milli. Dann gehen wir beiden jetzt da durch diese Lücke raus.", erkläre ich ihm und deute auf die Tür über unseren Köpfen. Er schüttelt heftig den Kopf. „Keine Angst, ich bin bei dir. Wir schaffen das.", spreche ich ihm Mut zu. Ich steige mit den Füssen auf verschiedene Kanten und komme schliesslich mit Finn auf dem Arm oben raus. Vorsichtig klettere ich vom Waggon runter, ein Feuerwehrmann unterstützt mich dabei.

Auf der Wiese gebe ich Finn den Rettungssanitätern weiter. „Finn, diese Männer kümmern sich jetzt um dich. Die wollen, dass es dir wieder gut geht. Du musst ihnen sagen, was dir wehtut, sag ihnen die Wahrheit. Ich komm dich mal besuchen, versprochen. Tschüss Kleiner!", verabschiede ich mich vom kleinen Finn, der etwas ängstlich zu den Sanitätern hochsieht. Mein Atem verdampft in der kalten Luft. Es ist heute klirrend kalt.

„Gute Arbeit, Fussballer.", meint Will und klopft mir anerkennend auf die Schulter. Da sind sie wieder, diese dumpfen Schläge im Bauch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht halte ich mir den Bauch und kann mir ein Stöhnen nicht verkneifen. „Alles okay Milli?" Sofort schrillen bei Will alle Alarmglocken. „Mach mal deine Jacke auf und deinen Pulli hoch bitte.", meint er und hilft mir, die Kleidung loszuwerden.

Auf meinem Bauch ist ein grosser blauer Fleck, auf der linken Seite. Vorsichtig tastet er es ab, als ich aufstöhne vor Schmerz. Ich habe noch nie solche Schmerzen verspürt, es fühlt sich an als ob mich jemand innerlich zerreissen würde. „Wo tut es dir weh?", fragt er besorgt und drückt weiter auf meinem Bauch herum. „Mein Bauch links und die Schulter. Und mein Kopf, aber das geht klar." Sofort schiebt Will die Jacke wieder darüber und pfeift den Sanitäter zu sich. Dieser tastet erneut meinen Bauch sowie meinen restlichen Körper ab und dann geht alles ganz schnell.

Will schüttelt den Kopf. „Verdammt, ich tippe auf Milzruptur, gebrochene Rippen und womöglich auch das Schlüsselbein." Ein Kumpel von ihm eilt mit einer Trage zu mir, ich werde daraufgelegt und bekomme eine Nadel in den Arm. Zusätzlich setzt Will mir eine Maske auf, damit ich besser atmen kann.

Ich höre, dass jemand in der Nähe meinen Namen schreit. Finn ruft laut nach mir und erscheint jetzt auf dem Arm des Sanitäters neben mir. "Geh jetzt mit den lieben Sanitätern mit ins Krankenhaus, ja?", ermutige ich den Jungen und versuche, so normal wie möglich zu klingen. „Nein, du hast mich gerettet, dann will ich dich jetzt retten.", meint Finn und ergreift meine Hand. Ich lächle ihn an. „Na gut kleiner Mann. Aber du fährst vorne im Auto mit, ja?", meint der Sanitäter und hilft ihm auf den Beifahrersitz.

„Wie zur Hölle hast du diese schrecklichen Schmerzen die ganze Zeit ausgehalten?", fragt Will mich, als er eine Nadel aus der Verpackung holt, um ein Medikament aufzuziehen. Angestrengt nehme ich mir die Maske vom Gesicht, um mit ihm zu sprechen. „Ich musste doch diesen Menschen helfen. Die hätten es niemals überlebt!" Will schüttelt den Kopf und zieht mir die Maske wieder übers Gesicht.

Eine klare Flüssigkeit wird mit einer Spritze durch den Zugang in meinem Handgelenk gespritzt, sofort werden die Schmerzen erträglicher. Aber mit der Linderung der Schmerzen kommt eine enorme Müdigkeit dazu. Ich kämpfe regelrecht dagegen an, die Augen offen zu halten. Ich werde auf der Trage hochgehoben und im Eiltempo in den Krankenwagen gebracht.

Sogleich spüre ich den Temperaturunterschied, denn draussen ist es wirklich eisig kalt. Um mich herum ist es wunderbar warm und ich schliesse meine Augen. Sollte ich jetzt sterben dann gehe ich friedlich. Ich fühle, dass eine kühle Flüssigkeit durch meinen Arm in meine Venen läuft und Will mich von Kopf bis Fuss untersucht.

Dann knallt eine Türe. „Milli, was machst du für Sachen?", höre ich Sarah sagen und fühle ihre warmen Finger, die sich um meine kalten Hände schliessen. Dann fühle ich nichts mehr.

Sarahs Sicht:

Ich stürze mich sofort in die Ambulanz, in der Milli liegen soll. Leandro kommt kaum hinterher, schon greife ich Millis Hand und umschliesse sie fest. „Sie müssen jetzt leider raus, jemand kann vorne mitfahren, der andere muss selber fahren.", meint der eine Sanitäter und steigt aus um sich hinters Steuer zu setzen.

Neben Milli steht ein Mann in Zivil. Er hat eine Schramme an der Stirn und ein Loch im Pullover in seiner Oberarmgegend. Dort sieht man eine blutige Schnittwunde. Der Mann schliesst Milli an ein Gerät an, welches seine Herztätigkeiten aufzeichnet. 

„Ich bin Will, freut mich dich kennenzulernen." „Ebenfalls. Was ist mit ihm?" „Er hat wohl einen Milzriss, das ist lebensgefährlich. Wir müssen ihn sofort ins Krankenhaus bringen, damit das operativ versorgt werden kann." Ich nicke. „Kann ich nicht auch mitfahren? Ich meine, können wir denn nicht beide mitfahren?", fragt Leandro nervös. Will schaut den zweiten Sanitäter fragend an. Dieser wirft mir erst einen prüfenden Blick zu, gibt aber dann die Freigabe. „Wir lassen euch in dem Zustand nicht mehr Auto fahren." Leandro setzt sich auf den Beifahrersitz, nimmt einen kleinen Jungen, der wohl vorher schon dort gesessen hatte, auf den Schoss und ich nehme auf dem grossen Sessel neben der Trage platz.

Der Krankenwagen fährt mit Blaulicht und Sirene durch die Strassen, fährt über rote Ampeln und weicht stehenden Autos auf. An der Notaufnahme ist die wilde Fahrt vorbei. Milli wird ausgeladen und mit der Trage eilig reingeschoben. Scheinbar sind sie auf ihn vorbereitet. Als ich mich auf den Stuhl vor der Schiebetür setze, durch die sie mit Milli verschwunden sind, realisiere ich das erste Mal, was hier gerade vor sich geht. Einer meiner besten Freunde kämpft da drin gerade um sein Leben. Und ich sitze hier und kann nichts tun. Genauso wie bei Roman vor einigen Wochen.

Leandro kommt mit dem kleinen Jungen auf dem Arm durch die Tür rein. „Ich bringe dann Finn mal auf den Kindernotfall." „Ach ja, wie steht's eigentlich bei den Jungs?", frage ich Leandro, in der Hoffnung mich und ihn vielleicht etwas abzulenken. Dieser zückt sein Handy. „Dein Liebster hat noch einen kassiert, jedoch haben Auba und Marco je noch eins geschossen.", meint er. „Und jetzt dauert es noch genau zehn Minuten." Ich nicke und lehne meinen Kopf an die Wand.

„Hey Cucciola, er schafft das. Milli ist zäh.", tröstet er mich und streicht mir über den Kopf, bevor er in eine andere Richtung verschwindet. Ich nicke wieder. Dann schliesse ich meine Augen für einige Minuten und lasse mir alles durch den Kopf gehen.

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Ich denke viele von euch sind beinahe verzweifelt. Jetzt wisst ihr zumindest, was er hat. Zwar ist in diesem Kapitel ein bisschen wenig Roman, dafür ganz viel Milli (zwinkerzwinker).

Morgen und übermorgen sind wir im Europapark. Eventuell wird heute noch einmal ein Kapitel kommen, da ich im Moment wirklich in Laune bin. Ansonsten müsstet ihr bis frühstens Donnerstags ohne Kapitel leben. Naja, ihr werdet es überleben. Bis bald, hab euch alle lieb!

T.

47 degrees north (Roman Bürki FF)Where stories live. Discover now