Haarnadelkurven

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Kein Wind weht, dafür knallt die Sonne erbarmungslos heiß auf den Asphalt, auf dem du stehst.

Um den Asphalt, der eine Straße bildet, befinden sich Bäume, Büsche, Unkraut und weiteres Grünzeug. Auch, wenn es rechts von dir senkrecht nach oben und links von dir genauso steil nach unten geht, hat sich die Flora selbst dort breit gemacht. Die Straße vor dir ist allerdings nicht so steil, aber dafür verschwindet sie vor dir hinter der Steilwand in einer waschechten Haarnadelkurve. Die heißt so, weil die von oben ein wenig so aussieht wie eine Haarnadel.

In deiner rechten Hand hälst du ein Longboard, in der linken deine Handgelenkschoner. Alle anderen, sowie den Helm, hast du schon an.

Alles ist mucksmäuschenstill, nicht mal die Vögel zwitschern. Anders sieht es in deinem Kopf aus. Dort rauscht die Luft an dir vorbei, du gehst mit geschlossenen Augen die Strecke von unten nach oben ab. Jedes Schlagloch, jeder Markierungsstreifen der Straße, jeder umgeknickter Grashalm, alles prägst du dir ein. Es könnte gleich ein Hindenis sein.

Plötzlich bist du vor deinem inneren Auge bei dir selbst angelangt. Deine Lider öffnen sich und dein Körper reagiert wieder.
Als erstes lässt deine recht Hand dein Longboard los.

Der Knall, als es auf dem Asphalt auftifft und auf seine Rollen fällt, zerreißt die Stille. Mit deinem Fuß verhinderst du, dass es wegrollt.

Als nächstes hallt das Geräusch von Klettverschlüssen, die aufgerissen werden, die Stille. Du legst dir deine Handgelenkschoner an. Schnell rückst du nochmal deinen Helm zurecht, dann blickst du auf die Straße hinab.
Es kann losgehen.

Dein zweiter Fuß stellt sich zu seinem Gegenstück aufs Board, worauf dieses sofort losrollt. Anschwung brauchst du nicht zu geben, der recht starke Abfall der Straße nimmt dir das ab.

Fünfzig Meter vor dir beginnt die Kurve. Aufgeregt fängt dein Herz an, schneller zu schlagen. Deine Lippen formen ein Lächeln. Deine Pupillen weiten sich. Nur noch ein Moment...

Die Kurve kommt schnell, oder besser gesagt, du kommst schnell in die Kurve. Du gibts Druck auf die Achsen, beugst die Knie und fährst in die Kurve schließlich hinein. Deine Füße fühlen sich so an, als sei dein Board daran fest gewachsen, als die Fliehkraft es nach außen zieht.

Das Brett neigt sich unheilvoll weit zur Seite, dennoch bleiben alle Rollen auf dem Asphalt. Die Zentrifugalkraft zwingt auch dich in die Waagerechte. Damit du nicht kippst, stützt du dich mit der Hand auf dem Boden ab. Nur wenige Zentimer unter dir lässt der raue Asphalt deine Hände durch die Handgelenkschoner, die die komplette Handinnenfläche bedecken, vibrieren.

Du bewegst dich völlig selbstständig, als dein Bauch anfängt, zu kribbeln. Ohne deine Bewegungen kontrollieren zu können, bewegt sich dein Körper in einer unheimlich schnellen Geschwindigkeit durch die Kurve, nur wenige Zentimeter über dem rauen Asphalt, der bei Kontakt nicht nur heiß ist, sondern bei der Geschwindigkeit auch böse Schürfwunden auslösen kann.

Deine Sicht ist behindert, du siehst nichts. Die Vibration, die der Asphalt bei deinen Händen auslöst und sich über den ganzen Körper verteilt, raubt dir die Sinne. Das kribbelnde Gefühl im Bauch gibt den Rest. Es ist ein unglaubliches Gefühl, was dir eine Gänsehaut verpasst.

Es ist ein unbeschreiblich schöner Moment, von dem du willst, dass er nie wieder aufhört.

Aber leider geht auch der schönste Moment der Welt auch mal zuende, schon nur nach wenigen Sekunden ist die Kurve zuende und du stehst wieder senkrecht auf dem Board, die Vibration lässt nach, als der Kontakt zum Boden abbricht. Auch deine fünf Sinne schärfen sich wieder.

Die Kontrolle über deinen Körper kommt zurück, alles normalisiert sich. Geistig schon in der nächsten Kurve, lächelst du noch einmal und blickst nach vorne. Die nächste Haarnadel-Kurve ist nicht mehr weit weg. Du bist bereit. Die Gefühle in dir spielen verrückt, selbstsicher streckst du deinen Rücken durch. Du fühlst doch unantastbar und allmächtig.

Langsam gehst du leicht in die Hocke. Das Spiel beginnt von neuem.

Viel zu schnell bist du am Fuß des Berges angelangt, viel zu schnell kommt eine andere Straße in Sicht, eine stark befahrene, die dich zum bremsen zwingt. Als deine Füße sich vom Board trennen und du normalen Boden unter den Füßen hast, musst du dich erst an das das Gefühl gewöhnen. Vorsichtig taumelst du ein paar Schritte vorwärts, bevor du wieder normal gehen kannst.

Du nimmst dein Longboard in die Hand, klemmst es dir unter den Arm. Deine Schultern hängen entspannt und erschöpft herunter.

Von der Unantastbarkeit und dem Gefühl, allmächtig zu sein, ist nicht mehr viel übrig. Seufztend siehst du an dir hinunter.
Du siehst mit deinen vielen Gelenkschonern und der darunter etwas zu weiten Kleidung aus wie ein Kind, dass zum ersten Mal im Skatepark steht. Niemand würde jetzt, bei dem Anblick denken, dass du eine sehr gefährliche Sportart betreibt und sie richtig gut kannst.

Überall in den Kurven hast du durchgehende, saubere und ordentlich gezogene weiße Linien hinterlassen. Bei gutem Kurvengang hinterlassen die Rollen diese Linien, die aussagen, wie gut der Downhill-Boarder ist. Nicht selten hast du ein paar professionell ausgestattete Downhill-Fahrer im Skateladen belauscht und gehört, wie sie über ordentliche Linien auf der Strecke, die du gerade gefahren bist, gestaunt haben. Keiner von ihnen weiß, dass du sie hinterlassen hast. Und wie du dich dabei gefühlt hast.

Die Tatsache, dass niemand weiß, dass du so gut bist und das in der Szene über dich geredet wird, macht dich stolz.

Etwas niedergeschlagen, weil es vorbei ist, nimmst du deinen Helm ab und schüttelst deine Haare.

Erschöpft machst du dich auf den Heimweg. Zurück in die Umgebung, aus der du versucht zu fliehen, weil sie dir die Freiheit nimmt...

(Written in 2017, Published in 2019)

Oneshot FreiheitDonde viven las historias. Descúbrelo ahora