Kapitel 56

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• A L O N S O •

In meinem ganzen Leben war ich mir noch nie so sicher wie bei dieser Sache. Es gab immer Dinge, wobei ich unsicher war. Doch nun, nach den letzten Tagen, wurde alles plötzlich so klar. Natürlich wusste ich, dass die Gang das Problem war. Und ich wusste auch, dass ich wahrscheinlich nicht lebend aus dieser Sache rauskam. Doch ich war ein Kämpfer. Ich würde für meine Familie kämpfen, für meine Freunde und für Sam.

,, Alonso, du bist völlig loco [verrückt]!", rief Ramón aufgebracht. ,, Du weißt nicht, was du tust! Hermano [Bruder], du kannst- nein, du wirst sterben!" Ich antwortete nicht, sondern versuchte, ihn wegzuschubsen.

,, Du bist verrückt, dieses Mädchen macht dich krank. Du hast doch Wahnvorstellungen!" Nun kam es über mich. Er konnte sich nicht erlauben, so mit mir zu reden. Meine Entscheidung war zwar unglaublich dumm, doch besonders er sollte wissen, warum ich es tat.

Wütend drückte ich ihn an die nächste Hauswand. ,, Denkst du, ich weiß das nicht? Denkst du, dass ich das alles aus Spaß mache? Mierda, ich werde vielleicht sterben. Und das ist egoistisch, ich weiß, aber ich will nicht mehr so leben. Ich will nicht in Angst leben, dass irgendjemand meine Familie oder mein Mädchen umbringen könnte." Ramón seufzte auf und ich ließ ihn los, um in die Halle hineinzugehen, zu unserem Anführer Hugo.

,, Warte!", rief Ramón. ,, Sie werden dich irgendwo hinbringen. Wir müssen das planen, hermano. Ich werde dir helfen."

,, Das kommt nicht infrage."

,, Denkst du, ich sehe zu, wie du stirbst? Entweder ich helfe dir, oder ich steige auch aus."

,, Jetzt bist du völlig loco. Ich ziehe das alleine durch." Ich umarmte Ramón kurz und wollte in die Halle hinein, als mich plötzlich jemand an meinen Kragen packte und mir ein Messer dagegen drückte.

,, Haben wir hier einen Verräter?", flüsterte jemand. Ich biss mir auf die Unterlippe. Es war Xavier, ein OG [Original Gangster]. Er hatte sich schon bewiesen und war sozusagen im Ruhestand, doch immer noch tätig. Er war einer der wichtigsten Leute, da seine Loyalität nur der Gang gehörte.

,, Hugo wird das aber nicht gefallen, hijo de puta." Wütend knirschte ich auf und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien.

,, HOLT HUGO!", schrie er. ,, LOS!" Ich atmete tief ein und aus. Das war nicht gut. Ich wurde erwischt, wahrscheinlich hatte er mich die ganze Zeit belauscht. Die Strafe würde hoch ausfallen. Ich versuchte mein leichtes zittern unter Kontrolle zu kriegen. Der Moment war gekommen, als Hugo mit einer Zigarette im Mund hinauskam und sich verachtend umsah.

Hugo war kräftig und groß, viele Tattoos waren auf seinem Körper. Er hatte eine Glatze, auf der ebenfalls Tattoos waren. Seine Kleidung war nur schwarz, außer das bandana.

,, El delator [Ein Verräter]?", fragte er nochmal nach und sah mich danach. Seine Augen formten sich zu Schlitzen. ,, Alonso?"

Er kam mit schnellen Schritten zu mir und spuckte mir augenblicklich ins Gesicht. Ich bewegte mich nicht und machte keine rückartigen Bewegungen, sondern sah Hugo nur in die Augen, da ich noch meinen Respekt zeigen wollte.

,, Diese Gang", fing er an. ,, Diese Familie war immer für dich da, seit Luis Ramirez gestorben war. Und das ist über zehn Jahre her." Er kam näher an mir herum und löschte seine Zigarette auf meiner Stirn aus, bevor er sie auf den Boden warf. Ich hielt meine Miene auf, obwohl es schmerzte. Das war wohl heute der leichteste Schmerz, den ich erleiden würde.

,, Schämst du dich da nicht? Deine eigene Familie zu verraten?" Er hab ein Zeichen zu Xavier, der das Messer wieder einsteckte und mich auf den Boden warf.

,, Du willst also aussteigen?" Kurz lachte Hugo auf. ,, Wie du willst. Wenn du überlebst." Er trat mir in den Magen und ging danach wieder rein. Kurz krümmte ich mich und atmete unregelmäßig. Der Schmerz in meinem Magen pochte, ich versuchte ihn auszublenden. Ich versuchte an Sam zu denken. An ihr Lachen. An ihr Lächeln. An sie.

Ein lautes klingeln erschien, ich hielt mir an die Ohren. Es war ein schiefer Ton, der sich durch meine Ohren riss und schmerzvoll immer wieder in meinem Kopf wiederholte.

Es wurde laut spanisch geredet, alle Mitglieder stellten sich um einen großen Kreis um mich herum. Xavier brachte mich hinter die Halle.

,, Heute, liebe Leute, rief Hugo. ,, Heute, möchte Alonso Ramirez unsere Gang, unsere Familie, verlassen." Unzählige Beleidigungen wurden gerufen, es wurden Stöcker nach mir geworfen.

,, Geben wir ihm, was er will", lachte Hugo. ,, Genau wie sein jämmerlicher Vater, der dachte, dass er la familia verlassen könnte. Erbärmlich!"

,, HÖRST DU DAS, ALONSO?", schrie Hugo in mein Ohr. Ich spürte, wie er mich auf den Rücken trat. Erneut und erneut, bis ich mich immer mehr krümme. Als er von mir abließ, versuchte ich, mich gerade hinzustellen und mir den Schmerz nicht ansehen zu lassen.

Meine Atmung ging regelmäßig. Es war tot still, niemand sagte was. Hugo konnte jeden Moment ein Zeichen geben, sodass alle Maid mich losgingen und mich bis in die Bewusstlosigkeit schlugen. So war die Regel. Jeder musste mitmachen, und mir so viele Knochen wie möglich brechen, bis ich bewusstlos wurde. Danach würden sie mich irgendwo wegbringen, egal ob ich noch lebte oder tot war.

Ich dachte an Sam. An Samantha Hanson. Wenn mich das ganze zu ihr führen würde, dann war es die Schläge wert, die ich in jener Sekunde, Minute oder Stunde kriegen würde.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich durfte mich nicht wehren. Wenn ich mich wehrte, würden sie auch nach meiner Bewusstlosigkeit weitermachen oder mich sogar umbringen. Das Leben war wohl unfair, oder eher die Gang.

Es kam wie es kommen musste und nach unendlichen Gedankengänge, die meine letzten werden könnten, schlug jemand zu. Gegen meinen Unterkiefer. Ich hatte meine Augen die ganze Zeit geschlossen und bevor ich überhaupt versuchen konnte, meinen Unterkiefer zu bewegen, kam ein erneuter Schlag. Diesmal gegen meine Wirbelsäule. Ich krümmte mich leicht. Ein furchtbarer Schmerz durchfuhr mich und kurz spürte ich nichts mehr in dieser Gegend.

Erneut war es still, bis mir mehrere Fäuste ins Gesicht schlugen. Aus jedem Winkel kamen welche und es fiel mir schwer, das Gleichgewicht zu halten, bis ich auf die Knie fiel und mir jemand mit etwas scharfem den Unterarm aufschlitzte.

Mehrere Schläge folgten danach auf meine Rippen. Ich schmeckte Blut, als mir jemand erneut auf den Unterkiefer schlug, diesmal nur viel härter. Aus allen Richtungen fühlte ich Schmerz.

Schmerz, Schmerz, Schmerz.

Ich versuchte, an meine Familie zu denken. An Sam.

Sam, Sam, Sam, Sam, Sam.

Zeit verging, die Taubheit durchfuhr mich. Irgendwann fühlte ich keinen Schmerz mehr. Irgendwann kamen die Schläge nicht mehr bei mir an und mir kam es so vor, als würde ich einschlafen.

Einschlafen, mit dem Gedanken an Sam.

New York NightsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt