In der Nacht

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Als ich erwache, ist es stockdunkel draußen und ich muss ganz dringend auf die Toilette.

Ich schleiche den Flur entlang, bis zum Badezimmer um mich zu erleichetrn. Gerade will ich in mein Zimmer zurückgehen, als mir auffällt, das ich Durst habe.

Also gehe ich leise die Treppe hinunter, dann durch die Eingangshalle ins Wohnzimmer und von dort in die Küche. An der Wand taste ich nach dem Lichtschalter und knipse die Lampe an. Nachdem ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe, fülle ich ein Glas mit Wasser aus der Leitung und trinke einige Schlucke, dann stelle ich es auf die Spüle. Als ich die Küche verlasse und das Licht wieder ausschalte, kommt mir das Wohnzimmer viel dunkler vor. Daher verwundert es mich umso mehr, das am anderen Ende des Raums ein schmaler Lichtstreifen durch die Tür des Musikzimmers fällt.

Vielleicht sollte ich das, was ich jetzt tue nicht tun, aber ich kann der Versuchung einfach nicht widerstehe.

Auf Zehenspitzen schleiche ich vorsichtig, um nicht irgendwo anzustoßen, durch den Raum, bis zu der Tür, die ins Musikzimmer führt.

Sie ist nur angelehnt.

Ganz langsam schiebe ich sie ein Stück weiter auf, so dass ich in den Raum hinein sehen kann.

Vor Aufregung pocht mir das Herz bis zum Hals. Was mache ich denn nur? Scheinbar hat die Szene heute Morgen meine Neugier nicht in die Schranken weisen können, denn ich bin kein bisschen schlauer, als zuvor.

Ich versuche keinen Laut von mir zu geben, aber in meinen Ohren klingt meinen Herzschlag viel zu laut und meinen Atem müsste man bis in die Küche hören können, doch ich ziehe mich trotzdem nicht zurück.

Neugierig schaue ich in den Raum.

Ich spähe vorsichtig durch den Spalt, bis mein Blick auf den erleuchteten Flügel fällt. Jemand sitzt auf dem Hocker. Den Kopf gesenkt streicht er mit der rechten Hand über die Tasten, ohne sie anzuschlagen. Mit der linken stützt er sich an dem Instrument ab. Ich erkenne Ian an seinen dunklen Haaren, seinen breiten Schultern und an seinem Profil, das ich mir im Wald, als er mich getragen hat immer wieder angeschaut habe.

Er scheint weit weg zu sein, in einer anderen Welt. Weit weg von allen. Obwohl ich immer noch an der Tür stehe, sehe ich doch, wie er die Stirn runzelt und die Augen zusammen kneift. Er wirkt verzweifelt, hilflos und traurig. Sein Körper ist vornübergebeugt, sein Kopf gesenkt alles an ihm lässt in mir den Wunsch entstehen, zu ihm zu gehen und ihn in den Arm zu nehmen, doch ich traue mich nicht.

Deutlich erinnere ich mich an seine Wut, seinen Hass, den er mir heute Morgen nur allzu deutlich gezeigt hat, als ich es gewagt habe auf dem Flügel zu spielen.

Ich kann mir zwar inzwischen erklären, warum er so heftig darauf reagiert hat, aber was mir immer noch ein Rätsel ist, ist das er mich scheinbar nicht wiedererkannt hat.

Sosehr habe ich mich doch gar nicht verändert oder doch?

Nachdenklich denke ich an die Nacht zurück, als ich ihn das erste Mal getroffen habe.

Die Nacht, als er mit mir getanzt hat und wo er mich von Jason weggezogen hat, als ich auf diesen losgegangen bin. An die Nacht von meinem sechszehnten Geburtstag, als ich mich mit Mel gestritten habe und mich im Wald verlaufen habe. Die Nacht, als er mich durch den halben Wald getragen hat und ich eine gefühlte Ewigkeit in seinen Armen gelegen habe. Diese Nacht werde ich wohl nie vergessen.

Doch was ist seit her alles passiert? Habe ich mich so sehr verändert?

Ein bisschen. Muss ich eingestehen. Zum einen bin ich viel dünner als damals und zum anderen schminke ich mich seither auch nur noch so, wie Mel es mir gezeigt hat. Aber Ian hat meine finstere Kriegsbemalung ja gar nicht mehr gesehen. Erinnere ich mich.

✔All I want is... YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt