Bahnhofstoiletten, Selfies und eine beinahe pferdelose Kutsche

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Luke

Die Fahrt ist wie im Flug vergangen, so gut haben wir uns unterhalten. Die gesamte Zeit konnten wir reden und noch mehr reden, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Was ein Zufall aber auch, dass ich schon direkt im Zugabteil meine neue beste Freundin getroffen habe, die auch noch genau das gleiche Ziel hatte wie ich!

Ich weiß jetzt, dass sie noch zwei kleinere, nervige Schwestern hat, später einmal eine berühmte Sängerin werden will, aber leider unter einem akuten Fall von Lampenfieber leidet. Dafür weiß sie, dass ich allein mit meiner Mum aufgewachsen bin, meinen Erzeuger nicht kenne und ein Faible für bunte Ringelsocken habe. Und noch tausend andere Kleinigkeiten.

Nur Larry, den habe ich ihr verschwiegen. Das wäre vielleicht ein bisschen zu viel für den Anfang. Es soll ja Welten geben, in denen Menschen Informationen über Werwölfe, Vampire und Co aufnehmen, ohne mit der Wimper zu zucken -- in meiner Welt würde man wahrscheinlich die Männer mit den weißen Kitteln holen, wenn ich behaupte, ein Werwolf zu sein.

"Nächster Halt, Shotton, Wales."

Dick eingemummelt in meinen warmen Mantel und meinen extragroßen, regenbogenfarbenen Schal klettere ich mit Lizzy und unserem Gepäck im Schlepptau die Stufen zum Bahnsteig hinab. Also an das Wetter in Wales werde ich mich erst noch gewöhnen müssen.

Suchend schaue ich mich um. Die Dämmerung ist schon hereingebrochen, und gepaart mit dem andauernden Nieselregen ist von der Landschaft leider nicht viel zu erkennen.

"Schade, dass es schon so dunkel ist, man kann ja kaum noch etwas sehen", spricht Lizzy meine Gedanken aus. Sie tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. "Ich geh mal kurz die Toilette suchen, im Zug wollte ich nicht." Verständlich, aber ob die Toiletten im Bahnhof viel besser sind?

"Kein Ding, ich warte hier auf dich. Kann ja solange auf das Gepäck aufpassen." Und schon ist sie weg.

"Wusstest du, dass es in Wales durchschnittlich 138 Regentage im Jahr gibt?" Larry hat wirklich erstaunlich lange die Klappe gehalten, während ich mit Lizzy unterwegs war. Jetzt wo sie weg ist, nutzt er die Gelegenheit. "Dabei fällt insgesamt nicht ganz so viel Niederschlag wie in München."

"Ehrlich? Das war mir nicht bewusst. Warum zum Kuckuck weißt du sowas?"

"Na hör mal, ich musste doch recherchieren, wo wir ab heute leben werden!"

„Und da googelst du die durchschnittliche Niederschlagsmenge??"

"Da war ich nur ganz kurz weg, und du führst schon Selbstgespräche?" Upsi, erwischt. Lizzy ist wieder da. Jetzt schnell unschuldig schauen.

"Nein, nein, ich hab nur meiner Mum eine kurze Sprachnachricht geschickt, dass ich gut angekommen bin. Sie macht sich sonst nur wieder Sorgen und nervt ohne Ende."

Lizzy schaut zwar etwas skeptisch, scheint meine Ausrede jedoch zu schlucken. "Gute Idee eigentlich. Lass uns doch einfach einen Status posten und unsere gesunde Ankunft in Wales verkünden. Dann müssen wir's nicht allen Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten einzeln mitteilen." Von unseren Freunden mal ganz abgesehen. Und dem ganzen Rest der Welt.

Und schwupps, geht ein gemeinsames Selfie von uns beiden, vor dem windschiefen Bahnhofsgebäude in Shotton, Wales, in die Welt hinaus.

~

Gefühlt stehen wir schon einige Stunden am Bahnhof, der angekündigte Shuttlebus Richtung Schule ist allerdings noch nicht erschienen.

Dafür spielen mir meine überreizten Ohren wohl einen Streich. Oder ich kriege Halluzinationen. Kein gutes Zeichen. Ob das Essen heute mittag verdorben war? Oder der Latte heute morgen?

"Ist das Hufgeklapper?" Oder auch nicht, wenn Lizzy das gleiche hört.

Da taucht aus der Dunkelheit auch schon ein Gefährt auf, mit einer einzelnen Öllampe so spärlich erhellt, dass man mit Mühe gerade einmal die groben Umrisse einer Kutsche ausmachen kann. Und vor der Kutsche läuft ein ... nichts?

Das muss ein Traum sein, selbst-fahrende Kutschen gibt es nur in Büchern. Oder Buchverfilmungen. Schnell presse ich meine Augen zusammen und kneife mir sicherheitshalber kräftig in den Unterarm. "Autsch!" Okay, ich bin also wach.

"Also wirklich, Luke, kurz dachte ich, da wäre kein Pferd!", höre ich Lizzys Lachen. "Dabei ist das Pferd einfach nur schwarz wie die Nacht. Beinahe wäre ich drauf reingefallen!"

"Schade, kurz hatte ich Hoffnungen, dass wir in einer super aufregenden Schule für Hexerei und Zauberei gelandet wären." Larry klingt in meinem Kopf erstaunlich enttäuscht, wo er doch ständig gehauptet, ein Wolf der Fakten und Wissenschaften zu sein.

Die Kutsche ist mittlerweile mit quietschenden Rädern bei uns angekommen und wir laufen langsam darauf zu. Die ganze Situation kommt mir hochgradig suspekt vor und meine Haare im Nacken stehen zu Berge. Larry hat sich in meinem Inneren zusammengerollt und muckst sich nicht mehr.

"Hallo?", spreche ich die zusammengesunkene Gestalt auf dem Kutschbock vorsichtig an. Gruselig, so mit schwarzglänzendem Mantel und Kapuze tief ins Gesicht gezogen. "Kommen Sie von Hagworts?"

Langsam dreht die Gestalt ihren Kopf in unsere Richtung. Das Gesicht lässt sich im Schatten nur erahnen, dichte Augenbrauen überdecken die Augen noch zusätzlich, und es ist schwer zu sagen, wo der Bart anfängt und die Haare aufhören.

Da endlich öffnet die Gestalt ihren Mund und sagt: "Abba natürlisch, woher denn sunscht? Mei Name isch Higgrat. Ihr habbt eusch abba aah n fürschterlische Daag fürs Ankumme ausgsucht. Erscht brennt mirs Esse oo, und dann verreckt mir aah nuch de Motor vum Bus. Hopp hopp, Koffa hinne nei und rei mit eusch, isch habb ja nedd de ganze Daag Zeit."

Der Omega, der Badboy und die MafiaWhere stories live. Discover now