London

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Im Frühjahr 1987 bestand Audrey ihre UTZ Prüfungen mit Summa cum Laude und dementsprechend erreichten sie binnen weniger Wochen verschiedenste Jobangebote des englischen wie auch brasilianischen Zaubereiministeriums, ebenso von anderen magischen Organisationen. Nach dem letzten Schuljahr war die junge Hexe über den Sommer nach Minoria zurückgekehrt, um sich eine kleine Auszeit nur für sich zu genehmigen. So ganz funktionierte dies allerdings nicht, da ihre Großmutter sie sofort versuchte in das familiäre Geschäft mit einzubeziehen und ihr einen Zauberer nach dem anderen vorstellte. Von Erholung konnte hier keine Rede sein, fast arbeitete sie in diesen wenigen Monaten noch mehr als sie in den gesamten drei Auslandsjahren für ihre Prüfungen gepaukt hatte. Der wenig vorhandene Enthusiasmus der Enkelin kümmerte Audreys Großmutter nicht im Geringsten. Sie bürdete ihr allerhand verschiedenster Verpflichtungen auf, immerhin erfüllte sie im Gegensatz zu Rialda Brixford wirklich alle Anforderungen, welche die alte, weise Zaubertrankmeisterin so sehr schätzte. Oliver verirrte sich kaum noch zurück in die Heimat, er war an den verschiedensten Orten in Brasilien nun als erfolgreicher Auror tätig. Audrey ertappte sich immer wieder dabei, wie sie die Angebote des englischen Ministeriums genauer studierte als die restlichen. Der temperamentvolle Charakter ihrer Großmutter wurde ihr langsam zu viel und wenn ihr Bruder schon nicht im Dorf bleiben musste, konnte sie doch auch einen Schritt zurück in die große, weite Welt wagen. Ende des Sommers stand für sie schließlich eine Entscheidung fest. Anfang September würde sie nach England zurückkehren und im St.–Mungo–Hospital eine Stelle als Heiltrankherstellerin antreten. Zwar konnte sie sich bei Weitem interessantere Berufszweige vorstellen, jedoch wollte sie die Erwartungen ihrer Familie nicht komplett enttäuschen – immerhin hatte das schon Oliver für sie übernommen. Trotzdem war die Großmutter keineswegs begeistert über die Entscheidung ihrer Enkelin gewesen, Heiltränke herzustellen wäre immerhin eine so simple Aufgabe, das könne sogar ein Troll bewerkstelligen. Aber egal wie sehr sie versuchte auf Audrey einzureden und sie zum Bleiben zu überreden, ihre Worte stießen auf eine unüberwindbare Mauer und so verließ der letzte Spross der Familie das kleine Zaubererdorf.

Sie bezog eine kleine Wohnung innerhalb eines Apartmentkomplexes für Zauberer nahe der Winkelgasse. Es handelte sich um einen nicht besonders ansehnlichen grauen Betonklotz aus den frühen 50er Jahren. Für Muggel war das Gebäude als heruntergekommener Leerstand mit überwucherndem Efeu und fensterlosen Löchern zu erkennen, aber nach Audreys Meinung wäre aufgrund der ohnehin unästhetischen Präsenz des Hauses eine derartige Tarnung hinfällig gewesen. Solch einen langweiligen Kasten hätte wohl niemand freiwillig betreten wollen. Samuel und Charmaine machten ihr den Einzug erträglicher, indem sie eine Wohnung nur drei Straßen weiter fanden und sich dort auch recht bald niederließen. Das Leben in London war nicht so, wie Audrey es sich erhofft hatte. Die Arbeitstage im St.-Mungos waren lang und schwer. Das Wetter in der großen Stadt wechselte stetig vom wolkenverhangen Himmel zu regnerischen Schauern, selten zeigte sich die Sonne länger als wenige Stunden. Die Muggel waren unfreundlich, andauernd gehetzt. Es geschah wohl vieles in ihrer Welt zu dieser Zeit, die Unruhen blieben sogar in der Zauberwelt nicht komplett unbemerkt. Erklären konnte man sich dies jedoch trotzdem nicht so recht. Samuel hatte eines Abends versucht Audrey und Charmaine zu berichten, was genau in der Muggelwelt geschah, immerhin war er selbst in dieser aufgewachsen, verstanden hatten seine Freundinnen ihn aber trotzdem nicht.

So vergingen die Tage und Wochen. Schließlich Monate und Jahre. Jeden Tag ging Audrey früh zur Arbeit, kehrte spät am Abend zurück in ihre kleine, stickige Wohnung. Jeden Tag braute sie Heiltränke verschiedener Stärke, zahlreiche Gegengifte und bestellte Vorräte nach. Jeden Tag tat sie genau dasselbe, bis sie in eine monotone Dauerschleife gezogen wurde. Samuel machte eines Valentinstags Charmaine endlich einen Antrag. Natürlich sagte sie ja. Audrey lernte den ein oder anderen Zauberer kennen, aber nichts hielt lange. Letztendlich wurde es 1989. In der Muggel-Welt spielte sich ein Ereignis nach dem anderen ab, zumindest berichtete Samuel dies immer wieder voller Aufregung. Audreys Leben jedoch änderte sich nicht. Immer wieder erhielt sie von der Großmutter Briefe mit der Bitte, sie solle doch vernünftig werden und nach Minoria zurückkehren, sie verschwände nur ihr Potenzial. Sie antwortete nicht auf diese. Mitte des Jahres zogen Samuel und Charmaine zu ihren Eltern hinaus aufs Land, irgendwo in die grünen Weiten von Wales. Nach endlos langen Diskussionen hatten diese doch noch - wenn auch widerwillig - die Beziehung ihrer Tochter zu einem Muggelstämmigen akzeptiert, auch wenn sie Samuel alles andere als mit offenen Armen willkommen geheißen hatten. Immerhin täte Charmaine viel besser daran, einen Gentleman aus einer reinen Ahnenreihe zu heiraten. Der Sommer war trist und langweilig ohne ihre engsten Freunde und ehe sie sich versah, war es bereits Oktober geworden.
Missmutig streifte Audrey an diesem spätherbstlichen Abend durch die nassen Straßen der Londoner Innenstadt. Zwar hatten die lästigen Regenschauer am Nachmittag langsam nachgelassen, jedoch nieselte es noch immer leicht vor sich hin. Die junge Frau merkte förmlich, wie sich ihre wilden Locken zu einer ungebändigten Mähne aufbauschten, die Luftfeuchtigkeit gierig in sich aufsogen. Sie fröstelte, es war kalt geworden. Ein wenig enger zog sie den dunkelroten Umhang um sich, bereute es nicht doch den gefütterten Wintermantel angezogen zu haben. Einzelne Autos fuhren leise an ihr vorbei, ließen kaltes Wasser aus den dreckigen Pfützen auf den kahlen Gehweg spritzen. Audrey zog sich ihre Handschuhe über. Sie hatte mittlerweile ganz vergessen, wieso sie überhaupt nochmal ihre Wohnung verlassen hatte und langsam machte sich die Sorge in ihr breit, ob sie eventuell in den vielen Straßen und Gassen verloren gegangen war. Sie verschränkte die Arme vor dem Brustkorb und blieb für einen Moment stehen. Die orange leuchtenden Laternen verliehen der trist wirkenden John Adam Street einen schummrig, fast zwielichtigen Schein. Die Hexe schauderte und setzte sich wieder langsam in Bewegung. Ein weiteres Fahrzeug fuhr an ihr vorbei, jedoch in einem deutlich wahrnehmbaren Schritttempo. Als es genau auf ihrer Höhe angekommen war blieb es stehen, der laut brummende Motor gab ein fast ungeduldiges Knurren von sich. Audrey stutzte, drehte sich dann zögerlich zur Straße und blickte in die Augen eines pickligen, schlaksigen Mannes, der kaum älter als achtzehn Jahre sein konnte. Dann erst nahm sie den dreistöckigen bordeauxfarben lackierten Bus war, aus welchem der augenscheinliche Schaffner nun seinen blassen Kopf reckte. Mit leicht hervorquellenden, trüben Augen blickte dieser zu Audrey herab, musterte sie für einen Moment.
"Steigst'e jetzt ein, oder worauf wartest'e noch?"
Verwirrt blinzelte sie, jedoch erklomm sie dann zögerlich die Stufen des Einstiegs und sah sich ein wenig unsicher im Inneren des gigantischen Busses um. Vage erinnerte sie sich an die wenigen Fahrten, die sie mit dem 'Fahrenden Ritter' in der Vergangenheit unternommen hatte. Mit einem Mal beschlich sie ein nostalgisches Gefühl und ihr Herz machte einen leichten Hüpfer.
"Wohin soll's denn geh'n?"
Die Stimme des drahtigen Schaffners riss sie wieder zurück in die Realität, unwillkürlich biss sie sich auf die Unterlippe.
"Uhm."
Audrey überlegte angestrengt, sah an ihrem Gegenüber vorbei aus dem Fenster auf die andere Straßenseite. Der Regen war wieder stärker geworden und ließ die rot leuchtende Reklame auf einer der vielen Hausfassaden leicht in der Nässe verschwimmen. Trotzdem waren die dort stehenden Wörter gerade so noch zu entziffern, 'The Liverpool Pub'. Audrey öffnete automatisch den Mund und sagte leise, mehr zu sich selbst als dem Schaffner, der sie noch immer abwartend anstierte.
"Liverpool... bring mich nach Liverpool."

The Sound Of MagicTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang