Vinyl

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Perplex sah sie den jungen blonden Mann an, mit welchem sie soeben kollidiert war. Dieser schenkte ihr einen ebenso verwirrten Blick, bevor er sich äußerst verlegen entschuldigte und eilig das Geschäft verließ. Audrey zog die Augenbraue hoch. Das war eine ziemlich seltsame Situation gewesen... und dieser Akzent kam ihr doch bekannt vor. Handelte es sich nicht um den, vor allem bei der Jugend mittlerweile sehr beliebten, Dialekt, welcher primär in gewissen Stadtteilen Londons auftrat? Für einen Moment verharrte sie in diesen Gedanken, dann schüttelte sie aber entschlossen den Kopf. Den bisher ohnehin schon nervenaufreibenden Tag würde sie sich jetzt sicherlich nicht von so etwas Banalen noch mehr verderben lassen. Wieso war sie überhaupt auf die Idee gekommen, diesen Plattenladen zu betreten? Zum einen hatte sie keinerlei Kenntnisse in Sachen Schallplatten und zum anderen war für sie Musik eigentlich nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. Unwillkürlich verschränkte sie die Arme vorm Brustkorb und blickte sich skeptisch um. Der Verkaufsraum erstreckte sich durch einen L-förmigen Umriss über einen Großteil des Erdgeschosses des schmalen Gebäudes. Im vorderen Teil befanden sich an den Wänden jeweils komplett durchgezogene Beistelltische, auf welchen quadratische Kartonkisten mit jeweiligen Beschriftungen zum Stöbern prangerten. Über diesen waren hölzerne Regale an den gelblichen Tapeten befestigt worden, welche besonders farbenfroh gestaltete LPs präsentierten. Direkt in der Mitte dieses Eingangsbereichs sprang einem förmlich ein breiterer Verkaufstisch ins Auge, auf welchem zu verschiedenen Seiten hin ebenfalls Kartons zum Durchforsten standen. Im hinteren Teil des Ladens konnte Audrey einseitig weitere Beistelltische mit Ware erkennen. Dort befanden sich auf der anderen Seite an der Wand angeschraubte Tische, die mit hohen Barstühlen versehen waren und insgesamt drei Plattenspieler mit ihren jeweiligen Vorverstärkern und passenden Kopfhörern trugen. Ein Großteil der gelblichen Tapete wurde von unzähligen Postern, Flaggen und Metallschildern verdeckt, welche unterschiedlichste Interpreten, Covers oder alte Werbungen aus den 50er Jahren zeigten. Leise spielte aus den überall im Laden platzierten Lautsprechern eine Art von Musik, die Audrey komplett unbekannt war. Die sorgfältig ausgelegten Verkabelungen ließen sich zu einer hochwertig aussehenden Anlage verfolgen, welche sich direkt hinter dem Verkaufstresen befand. Neben ihr führte eine hölzerne Tür, der ein neuer Anstrich sicherlich gutgetan hätte, in einen weiteren Raum oder vielleicht sogar hinauf in das nächste Stockwerk. Vor der Verkaufstheke standen zwei Männer, die sich ausgiebig zu unterhalten schienen. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Die sichtlich ältere Person trug einen zugeknöpften, glatt gebügelten Anzug und hielt einen hochwertig aussehenden Aktenkoffer in der rechten Hand. Mit der anderen zog der Mann gerade eine Zigarette aus der Brusttasche, zündete sich diese mit einem Feuerzeug an, welches der andere ihm wie selbstverständlich hinhielt. Dieser hatte wirres dunkles Haar, einen leicht ungepflegten Bart und tiefe Ringe unter den müde wirkenden Augen. Er gab seinem Gegenüber wortlos zu verstehen, kurz mit einer Wiederaufnahme des Gesprächs zu warten, dann richtete er den überraschend aufmerksamen Blick direkt auf Audrey.
"Dein Gesicht hab ich hier aber noch nicht gesehen."
Der Unbekannte war ihr gegenübergetreten und beäugte sie mit einem leichten Interesse in den fast schwarzen Augen.
"Du wirkst auch etwas verloren, um ehrlich zu sein."
"Uhm, ich..."
Audrey wusste nicht so recht, was sie antworten sollte. Sie fuhr sich hastig durch die wilde Lockenmähne, biss sich dabei unwillkürlich auf die Unterlippe. Ihr Gegenüber hob den linken Mundwinkel leicht an.
"Keine Panik auf der Titanic, normalerweise beiße ich erst beim dritten Besuch."
Beschwichtigend legte er die Hand auf ihre Schulter, schenkte ihr dabei ein leichtes Lächeln. Danach führte er sie zum hinteren Teil des Ladens, fischte nebenbei aus einer der zahllosen Kisten eine LP mit unauffälligem weißbraunen Cover und blieb mit ihr letztendlich vor einer der aufgebauten Hörstationen stehen. Er schob ihr einen Barhocker unterm Tisch hervor, klappte dann die Plastikkuppel des Plattenspielers auf und ließ elegant das Vinyl aus seiner Hülle direkt in seine feingliedrige Hand gleiten.
"Du siehst auch so aus, als hättest du noch nie eine Platte in der Hand gehabt."
Bemerkte er mit einem schiefen Grinsen und schmunzelte bei Audreys verlegenen Blick. Bedacht legte er das Wiedergabemedium auf, schaltete Spieler und Vorverstärker ein und reichte der jungen Frau die daran angeschlossenen Kopfhörer. Mittlerweile hatte sie sich zögernd auf dem Barhocker niedergelassen, sah dem noch immer Unbekannten verwirrt an.
"Musik."
Begann er zu erklären.
"Hilft immer, wenn man sich verloren fühlt. Das ist ein Album von 'The Moody Blues'. Die erste britische Nachpressung, um genau zu sein, aber das wird dir wohl leider kaum etwas sagen. Gib der Platte trotzdem eine Chance und hör rein. Ich muss mich noch fertig um meinen Kunden kümmern, danach komm ich wieder."
"Okay."
Noch immer ein wenig zaghaft setzte sie sich die Kopfhörer auf, ein leises Rauschen drang in ihre Ohren. Der Ladenbesitzer ließ dann vorsichtig die Nadel auf das Vinyl absetzen, gab Audrey einen Daumen nach oben und eilte zurück zu dem mittlerweile ungeduldig wartenden Anzugträger.
Sie schloss die Augen und versuchte die Musik in sich aufzunehmen. Unwillkürlich wippte sie leicht zum rhythmischen Takt des ersten Liedes mit, welchen Schlagzeug und Tamburin angaben. Nach kurzer Zeit setzte bereits die klare Stimme eines männlichen Sängers ein, er wurde von mehreren Instrumenten begleitet, welche Audrey nicht zuordnen konnte. Es musste sich aber unter anderem um irgendwelche Flöten oder dergleichen handeln. Diese melodischen Klänge bereiteten ihr ein seltsam vertrautes Gefühl, erinnerten sie an die Musik, die sie während ihrer Jahre in Hogwarts kennengelernt hatte. Aber es konnte sich hier kaum um Zauberer-Musik handeln, oder etwa doch? Sie öffnete die Augen, wollte sich nun das Cover genauer ansehen. Noch immer nickte sie im Rhythmus des ansteckenden Taktes des Liedes, während dieses langsam abklang und nahtlos zum nächsten überleitete. Die Vorderseite der aufklappbaren Hülle zeigte eine verzerrt wirkende beige Felsenlandschaft vor einem hellen, fast weißen Hintergrund auf welchem mit stark nach links geneigter Schrift 'The Moody Blues' und 'Seventh Sojourn' in zwei Reihen standen. Das mussten wohl der Name der Gruppe und des Albums sein, beide Ausdrücke waren Audrey völlig unbekannt. Die Musik steckte sie jetzt doch wieder an. Das weiche Solo einer elektrischen Gitarre löste beinahe eine Gänsehaut auf ihren Armen aus und die Stimmen der verschiedenen Sänger verzauberten sie in einer umgarnenden Sanftheit. Sie drehte nun die Hülle um, wollte sich das Backcover genauer ansehen. Dieses setzte die landschaftliche Szenerie der Vorderseite fort. Unten links waren wohl die Titel der verschiedenen Stücke in einer kleinen weißen Schrift aufgedruckt, mehr fiel ihr jedoch nicht auf. Wahrscheinlich lag dies daran, dass sie sich auf ein Neues von der Musik überwältigen ließ. Wer hätte denken können, dass sie Ruhe in einem kleinen, unscheinbaren Plattenladen mit einem seltsamen, dennoch wunderschönen Album finden würde. Die bedachten Töne wirkten fast schon einschläfernd, ihre Lider wurden schwer.

The Sound Of MagicWhere stories live. Discover now