Ein Kleines Dilemma

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Bill starrte sie eine gefühlte Ewigkeit wie vom Donner gerührt an, bevor er sich in verlegener Manier räusperte und nahezu hervorpresste.
"Wie kommst du denn darauf, dass ich deinen Chef kenne?"
"Das beantwortet nicht meine Frage, Bill."
Audrey verschränkte bestimmt die Arme vor der Brust und sah in abwartend an.
"Ich hatte da so ein Gefühl. Vor allem, weil ihr beide genau die gleiche Miene gezogen habt."
"Ach, ist das so."
Murmelte er kaum hörbar und strich sich eine imaginäre Strähne hinters Ohr. Dann wich er ihren aufmerksamen Augen aus und schien intensiv zu überlegen.
"Ich dachte kurz, dass ich ihn kenne. Aber er hat mich wohl nur an jemanden erinnert, den ich mal gekannt hatte."
Seine Stimme war gefasst, als er sie nun mit einem ebenso gefestigten Blick ansah und schließlich aufstand. Erneut hielt er ihr seine Hand hin. Dieses Mal, um ihr hoch zu helfen.
"Ich bin doch keine alte Frau, ich komm schon alleine auf die Beine."
Audrey lachte verlegen, nahm aber die freundliche Geste an.
"Es ist doch wohl der Gedanke, der zählt."
Bill schmunzelte nun selbst, von der vorherigen Ernsthaftigkeit fehlte jede Spur. Unwillkürlich musterte sie ihn. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr eine ehrliche Antwort gegeben hatte und selbst, wenn es eine Lüge gewesen war, sie konnte nicht weiter nachfragen. Das ließen seine Worte nicht zu und außerdem wollte sie die doch recht positive Stimmung zwischen ihnen wahren.
"Also Audrey."
Riss er sie aus ihren Gedanken und brachte sie dazu, ihre Aufmerksamkeit wieder direkt auf ihn zu richten.
"Wir müssen uns leider verabschieden, ich sollte langsam zur Arbeit."
"Das ist schon in Ordnung, ich hab ja auch noch im Laden zu tun."
Für einen Moment rang sie mit sich selbst und gab dann doch ihrem inneren Drang nach.
"Und Danke für das Gespräch. Ich glaube, ich hab zum ersten Mal seit Monaten vielleicht ein wenig mehr Klarheit."
"Nicht der Rede wert."
Ein breites Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er zog sie in eine feste Umarmung, bevor er ihr nochmals zum Abschied winkte und vor ihr disapparierte. Audrey bemerkte selbst ihr leichtes Schmunzeln, während sie noch kurz auf dem Platz verweilte und auf die alten Lagerhäuser blickte. Dann stieg sie ein wenig unbeholfen über den Absperrzaun und machte sich auf den Weg zurück in die Fleet Street. Die Sonne schien ihre Strahlen verstärkt zu haben und auch die Vögel sangen ihre Lieder in einer besonders ausgelassenen Freude. Audrey zog sich ihren Mantel aus und band ihn um die Hüften. Sie atmete tief durch. Ein kleiner, nahezu unscheinbarer Stein fiel lautlos von ihrem Herzen. Letztendlich öffnete sie mit dem vertrauten, melodischen Läuten des Eingangsglöckchens die Tür des Vinyls und blieb stirnrunzelnd mitten im Rahmen stehen.
Durch die Lautsprecher drang eine rockig, fröhliche Melodie, welche von einer fremdsprachigen, heiteren Frauenstimme begleitet wurde. Sie passte so gar nicht zu der sonst eher melancholisch wirkenden Atmosphäre der Ausstattung des kleinen Ladens. Romina und Martin waren die einzigen Personen im Inneren. Beide standen sich gegenüber, der Verkaufstresen und ein hoher Stapel an Singles lag zwischen ihnen. Sie wippte enthusiastisch zum Rhythmus der Musik, er wirkte währenddessen fast so, als würde er furchtbares Leid durchleben. Beide schienen Audrey nicht zu bemerken.
"Ach jetzt hab dich nicht so."
Romina stupste ihn grinsend an.
"Die Jugoslawen überraschen doch jedes Jahr aufs Neue, und immer ist es ein Hit."
"Das ist fraglich."
Martin verzog das Gesicht, als ein verspieltes Gitarrensolo einsetzte.
"Ich dachte, die Achtziger sind jetzt offiziell vorbei?"
"Und das von jemandem, der in den Sechzigern steckengeblieben ist, ipocrita."
"Lieber ein Heuchler mit gutem Musikgeschmack, als eine Edeldame mit einer Schwäche für einfach Gestricktes."
Er wandte sich um und nahm die Platte vom Spieler.
"Muss ich noch mehr ertragen, oder sind wir jetzt fertig?"
"Nein. Eine haben wir noch."
Romina stellte sich neben ihn und reichte ihm ein helles Cover. Danach legte sie die andere Single zu den restlichen auf den Stapel.
"Insieme: 1992, hast du dir also dein geliebtes Italien wieder bis zum Schluss aufgehoben?"
Er ließ die Nadel vorsichtig hinunter auf das Vinyl sinken und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf die Sizilianerin. Diese lächelte breit, stellte dabei ihre strahlenden Zähne zur Schau.
"Aber natürlich, das Beste kommt bekanntlich immer zum Schluss."
"Sicherlich."
Erwiderte Martin mit dem - für ihn eigentlich typisch sarkastisch - leichten Heben des Mundwinkels, seine Stimme klang dazu jedoch widersprüchlich sanft. Dann ließ er seinen Blick zu Audrey schweifen, die noch immer im Türrahmen stand. Plötzlich hatte sein schiefes Lächeln wieder den gewohnten, lieb gemeinten Spott.
"Wie war dein kleiner Spaziergang?"
"Er war schön, danke der Nachfrage."
Sie überspielte ihre leichte Verlegenheit, löste sich aus ihrer Starre und trat neben Romina an den Tresen. Neugierig betrachtete sie den Vinylstapel und sah sich ein Cover nach dem anderen an.
"Sind das alles Lieder von dem CES?"
"ESC."
Verbesserte Romina prompt und übernahm sogleich die Aufgabe des Zeigens der Platten.
"Dieses Jahr wird großartig und mein Mutterland wird ja sowas von gewinnen."
"Dem kann ich nicht einmal widersprechen. Der Rest trieft nahezu von Wiedervereinigungs-Hymnen."
Musste Martin ihr zustimmen, auch wenn es ihm sichtlich schien zu missfallen. Romina entfuhr ein belustigtes Glucksen.
"Insieme: 1992 ist genauso eine Wiedervereinigungs-Hymne. Nur, dass du sie nicht verstehst."
Martin verdrehte daraufhin kommentarlos die Augen.
"Du bist also wirklich kein Liebhaber von alldem?"
Hakte Audrey nach, um die Stimmung wieder zu lockern, und er überlegte für einen Moment.
"Ich bin dahingehend wohl ein wenig zwiegespalten. Zum einen freut es mich, dass der Musik so eine große Plattform geboten wird, andererseits aber sind die meisten Einreichungen doch nicht mehr als radiotaugliche Massenproduktionen."
Schulterzuckend wandte er sich dann ab und sortierte ein paar LPs, die auf der Arbeitsfläche unterhalb des Tresens lagen. Romina verdrehte die Augen.
"Weißt du Martin, nicht jedes Lied muss einen psychedelischen Rausch auslösen. Oftmals ist es sogar viel angenehmer, wenn die Musik einfach nebenherlaufen kann, während man sich auf anderes konzentriert."
Dann zeigte sie Audrey ein besonders buntes Cover.
"Das ist der spanische Beitrag, die sind auch ziemlich gut."
Diese nickte verstehend. So ganz hatte sie das Prinzip hinter dieser ganzen Veranstaltung aber doch noch nicht verstanden.
"Du, Romina."
Fing sie zögerlich an.
"Warum macht man eigentlich so einen großen Wettbewerb, und wie wird überhaupt entschieden, wer gewinnt? Wo und wie findet das eigentlich statt?"
"Wissbegierig bist du ja gar nicht."
Romina fuhr sich durch die wuschelige Mähne und schnitt dabei eine angestrengt nachdenkende Grimasse.
"Also, das Ding wurde in den Fünfzigern ins Leben gerufen, um das Gemeinschaftsgefühl der Europäer nach dem Weltkrieg wieder zu stärken. Seitdem wird die Veranstaltung von Jahr zu Jahr größer. Die Lieder werden von einer Jury aus jedem der teilnehmenden Länder bewertet, da werden Punkte von eins bis zwölf vergeben und der, der die meisten Punkte ergattern kann, gewinnt eben. Meistens findet das große Finale an einem Samstag im Mai statt und wird Live übertragen. In die USA aber natürlich nicht, deshalb hat meine Familie früher immer diesen Anlass genutzt, um die restliche Verwandtschaft in Corleone zu besuchen."
"Das klingt tatsächlich echt aufregend, wann ist er dieses Jahr?"
"Am 05.05. - einfach mitten in der Examensphase - ich schau zusammen mit Cecilia bei mir und Ben, die ist mittlerweile auch ein kleiner Fan geworden. Wenn du magst, kannst du dich uns gerne anschließen."
Bot Romina an und schob den fertig durchgesehenen Stapel an Singles ans andere Ende des Tresens. Zwei hatte sie für sich behalten, die Jugoslawische und Spanische. Martin schien auf Rominas Einladung hin hellhörig geworden zu sein, denn er schaltete sich wieder in das Gespräch mit ein.
"Oder du leistest Ben, Fey und mir auf dem John Lennon Memorial Konzert Gesellschaft, das ist auch an dem Tag."
"Seit wann würdest du denn freiwillig was von John Lennon hören?"
Skeptisch hob Romina ihre Augenbraue und auch Audrey stimmte ihr in eigener Empörung zu.
"Es geht ja nicht um die Lieder an sich, sondern um die Künstler, die mitwirken. Al Green, Joe Cocker, Lou Reed, Tom Petty und The Moody Blues? Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen."
Stellte Martin in einem Ton klar, der keine weiteren Fragen duldete.
"Oh, The Moody Blues? Dann muss ich mir das nochmal genauer überlegen."
Eine verlegene Röte schlich sich auf Audreys Wangen, während Romina einen genervten Laut von sich gab und betont auf ihre beiden Singles deutete.
"Gibst du mir noch die Insieme: 1992 dazu? Dann würd ich gleich zahlen und euch zwei weiter herumschwärmen lassen."
"Freundlich wie immer Romina."
Martin nahm das besagte Vinyl vom Spieler und ließ es in sein Cover gleiten. Dann reichte er die Single an Romina weiter, die schon nach ihrem Portemonnaie griff.
"Lass stecken Romi, geht aufs Haus. Neben dir interessiert sich wohl nicht wirklich jemand meiner Kunden für den 'Grand Prix'."
"Oh, Grazie. Dein nächstes Ale geht auf mich."
Sie steckte die Ware in ihre Tasche und legte dann ihre Hand auf Audreys Schulter, um ihr noch leiser zuzuraunen.
"Ich kann dir versichern, den ESC mit Cilia und mir zu schauen ist um einiges lohnenswerter als irgendein Konzert von einem toten Musiker zu besuchen."
Sie hob die Hand zum Abschied und verließ mit dem melodischen Läuten der Tür das Geschäft.
Audrey blieb in einer sich neu anbahnenden Überforderung zurück und zermürbte sich für den Rest ihrer Schicht den Kopf darüber, welches Angebot ihrer Freunde sie nun annehmen sollte. Martin war in dieser Hinsicht absolut keine Hilfe und er legte sogar bestimmte 'The Moody Blues' Kompilationen und Alben auf, um sie von der Richtigkeit seiner Einladung zu überzeugen. Dafür redete sie nicht mehr mit ihm und ließ ihn alleine im Lager vor sich hin werkeln, während sie sich auf dem Stuhl hinterm Verkaufstresen fläzte. Nach dem Feierabend hatte sie noch immer keine Antwort für ihr kleines Dilemma gefunden und beim gemeinsamen Abendessen mit Cecilia wurde ihr klar, dass ihre Mitbewohnerin ihr eine genauso große Hilfe sein würde wie Martin - nur eben genau andersherum. Also zog sich Audrey in ihr Zimmer zurück, um sich nicht weiter von irgendwelchen Seiten beeinflussen zu lassen und sie begann eine kleine Pro und Contra Liste zu erstellen. All ihre Freunde fielen als Punkte weg, immerhin verbrachte sie mittlerweile mit jedem von ihnen sehr gerne Zeit. 'The Moody Blues' waren definitiv ein Pluspunkt für das Konzert, der Preis für das Ticket jedoch ein ganz klarer Aspekt für die Minusseite. Die Vielfalt an Musik beim ESC stimmte sie besonders neugierig, aber das dazugehörende Verweilen im kleinen Kreis auf der Couch eher weniger. Am Ende des Abends war sie genauso ratlos wie vorher schon und ohne eine Entscheidung getroffen zu haben, verkroch sie sich unter die Bettdecke. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, aber wen konnte sie schon um Rat fragen? Fey, Benedict, Martin, Cecilia und Romina - sie alle würden sie davon überzeugen wollen, dass ihre jeweilige Seite die bessere Wahl war. Sie seufzte schwer. Wen kannte sie noch? Bill? Der würde nicht einmal wissen, worum es überhaupt ging. Er war bestimmt keine Hilfe, zumindest in dieser Hinsicht. Charmaine und Samuel fielen ebenso weg. Immerhin würde sie sich ziemlich schäbig vorkommen, wenn sie die beiden nur wegen so einem kleinen Dilemma anschreiben würde. Außerdem müsste sie im selben Zug auf Maines vorherige Briefe antworten. Das konnte sie nicht. Konzentriert dachte sie also weiter nach. Es konnte doch nicht sein, dass sie neben ihren Freunden niemanden hier kannte. Langsam wurden ihr die Augen schwer, es war ein langer Tag gewesen und dieser forderte mit ihrer Müdigkeit nun seinen Tribut. Sie gähnte herzhaft und bettete den Kopf tiefer ins Kissen. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Jetzt musste sie nur noch hoffen, dass Cecilia morgen wie sie eine späte Schicht arbeiten musste.

Die Sonne vom Vortag war verschwunden und das triste Grau war mit schweren Regenwolken zurückgekehrt. Es hüllte die Hafenstadt in einen kühlen Vorhang aus Schauern und Nebelschwaden. Trotz alledem schimmerten die Markisen von 'Emily's Wonderful World Of Books' in ihrem satten Grün und erfüllten die sonst kahl daliegende Parker Street mit einer verspielten Lebensfreude. Lediglich die voll bestückten Schlagertische fehlten in der sonst vertrauten Szenerie, bei diesem Hundswetter waren sie wohl zum Schutz der Bücher ins trockene Innere des Ladens gefahren worden. Ebendiesen wohlig warmen Innenraum steuerte Audrey nun auch an und schüttelte ihren Regenschirm aus, bevor sie die alte Holztür öffnete und hineinhuschte. Der geliebte Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee und bedrucktem Buchpapier stieg ihr in die Nase und ein angenehmes Kribbeln fuhr durch ihre Adern. Sie hatte Emilys Geschäft schon fast noch mehr ins Herz geschlossen als Martins 'Vinyl'. Aber wer konnte sich nicht in zwei Stockwerke voller bis zum Anschlag bestückter Bücherregale verlieben? Und der Duft erst. Audrey atmete ihn nochmal tief ein, bevor sie an den Verkaufstresen trat und sanft auf ein kleines Pagenglöckchen drückte.
"Ich komme gleich."
Ertönte die tiefe Stimme der Ladenbesitzerin aus dem Raum hinter der Theke und keinen Moment später betrat Emily das Zimmer und strahlte Audrey sanft an.
"Audrey, mein Augenstern. Dich habe ich ja schon lange nicht mehr hier gesehen. Wie geht es dir?"
"Gut Emily, sehr gut sogar. Und dir?"
Lächelte sie zurück und kam nicht drumherum, die ältere Frau zu bestaunen. Ausnahmsweise trug sie ihre hüftlangen Haare zu einem Zopf gebunden und ihre Kleidung war so stilvoll wie immer. Sie war einfach schön wie eine Fee und Audrey konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum sie keinen Partner hatte.
"Mir geht es auch wundervoll. Was führt dich zu mir, liegt dir etwas auf dem Herzen?"
Sagte Emily und lehnte sich leicht nach vorne, um Audrey ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu zeigen.
"Ja, tatsächlich."
Sie druckste ein wenig vor sich herum.
"Ich hab da so ein kleines Dilemma. Ich wurde von Romina als auch Martin zu verschiedenen Veranstaltungen eingeladen, die blöderweise genau am selben Tag stattfinden. Das John Lennon Konzert nämlich und den SEC... ESC. Ich hab mir sogar eine Pro und Contra Liste erstellt, aber bin immer noch so schlau wie davor."
"Hm, an sich musst du so etwas selbst entscheiden, da mag ich dir eigentlich gar nicht hineinreden."
Emily lachte dann leicht.
"Sonst kommt einer von den beiden noch zu mir, um sich zu beschweren und ich möchte weder in Konflikt mit meinem Monchichi noch mit meiner Robin geraten."
"Ja, natürlich. Das verstehe ich. Dann werd ich wohl weiter an meiner Liste arbeiten müssen."
Seufzte Audrey und stützte den Kopf auf ihren Händen ab. Emily sah sie mitleidig an und schien dabei selbst zu überlegen. Sie wandte sich kurz ab und stellte Audrey schließlich eine frische Tasse Kaffee hin. Dann erhob sie ihre tiefe Stimme.
"Mach dir doch unter anderem Gedanken darüber, welche Musik dich gerade jetzt mehr reizt. Sind es die alten, vertrauten Melodien, die auch wir hier immer wieder spielen oder interessierst du dich vielleicht doch ein wenig mehr für das Neue und Unbekannte?"
"Darüber Gedanken machen?"
Audrey legte den Kopf leicht schief und umfasste die heiße Tasse. Mit einem Mal schien ihr die Antwort auf ihr eigentlich so schwieriges Dilemma erschreckend einfach.

The Sound Of MagicOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz