Gebildete Arbeiterschaft

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Die beiden Männer sahen Audrey für einen Moment in einer undefinierbaren Manier an, während die Frau sie mit hochgezogenen Augenbrauen von oben bis unten abschätzig musterte. Sie war auch die erste, die ihre Stimme wiederfand. Ein überhebliches Lächeln schlich sich auf ihre blutrot bemalten Lippen.
"Wieso? Hat dein karges Englisch wohl nicht ausgereicht, um alles gleich beim ersten Mal zu verstehen?"
Dies schien auch ihre Freunde aus deren Starre zu reißen, denn ihre Blicke nahmen einen ebenso abwertenden Schein an und ahmten das vermessene Mustern ihrer Freundin nach. Audrey verschränkte unbeeindruckt die Arme vor der Brust, innerlich kochte sie vor Wut. Sie versuchte weiterhin bewusst ruhig zu klingen, als sie erwiderte.
"Oh, ich habe es durchaus verstanden. Nur wollten meine Ohren nicht glauben, so ein Unding an Behauptungen zu hören."
"Ach ja?"
Der rechte der beiden Männer antwortete ihr. Seine Wangen glühten bereits rosa vom Ale und auf seiner hohen Stirn glänzte ein leichter, von der Hitze erzeugter Film aus Schweiß. Mit dem vollen schwarzen Haar und der sportlichen Figur wäre er schön anzusehen gewesen, wenn nur auch seine Worte so melodisch geklungen hätten. Leider leierten diese aber, wie eine zu oft bespielte Kassette und auch ihr Inhalt war alles andere als schmeichelhaft.
"Bei Mulatten wie dir ist es wohl Gang und gäbe, dass sich Schwuchteln mit Schwuchteln und Lesben mit Lesben vergnügen."
Der versuchte Konter stieß bei der kleinen Gruppe auf großen Anklang. Sein rundlich gebauter Nebenmann schlug mit bekräftigender Anerkennung die Hand auf den Tisch, während die Frau ihr schulterlanges braunes Haar wild kichernd in den Nacken warf und dabei ihre spitzen Eckzähne zur Schau stellte. Audrey blieb augenscheinlich weiterhin gelassen, obwohl ihre Hände bereits unkontrolliert zu zittern begannen. Ihre Stimme wurde gepresster.
"Falls du damit meinst, dass die Gesellschaft in anderen Kulturen nicht so rückständig wie eure ist, dann definitiv."
"Da gehört jemand wohl selbst zum Abschaum dazu. Reicht ja nicht Mulatte zu sein, man muss dazu auch noch krankhaft und pervers sein."
Grinste die Frau überlegen und stand nun von ihrem Platz auf, um Audrey direkt gegenüber zu treten.
"Wenn ich mir an so einer wie dir nicht die Hände schmutzig machen wollen würde, hätte ich dich hier schon längst rausgeworfen, du dreckige Lesbe."
Audrey überspielte die immer heftiger aufflammende Wut in ihrem Bauch mit einem süffisanten Lächeln, den spitzer werdenden Unterton in ihrer Stimme konnte sie jedoch nicht unterdrücken.
"Ich muss dich leider enttäuschen. Ich finde anständige Männer genauso umwerfend wie selbstbewusste Frauen."
Sie ließ nochmals den Blick über die kleine Gruppe schweifen und verzog das Gesicht dann zu einer bedauerlichen Miene, sie konnte definitiv nicht weiter an sich halten und setzte nach.
"Leider sehe ich hier weder das eine noch das andere, dafür aber eine große Blase an nichtssagender Einfältigkeit."
"Was bist du denn für eine!"
Audrey hatte definitiv bei ihrem Gegenüber einen Nerv getroffen, denn die Frau holte nun entschieden mit der Hand aus, eindeutig bereit all ihre Kraft in einem Schlag zu bündeln. Sie hielt sich jedoch im letzten Moment zurück und sah in gespielter Verlegenheit auf einen Punkt hinter Audrey. Diese legte den Kopf leicht schief, bevor sie den Blick zur Seite drehte. Sie wollte immerhin wissen, was - beziehungsweise besser gesagt - wer die junge Frau in solch eine Bredouille brachte. Verwirrt hob sie ihre Augenbrauen, als sie Benedicts Gesicht in einer ungewohnten Ernsthaftigkeit erblickte. Dicht hinter ihm stand Martin, auch seine Mimik war erschreckend steinern. Die Frau vor ihr begann nun zu stammeln, ein rosafarbener Schimmer legte sich auf ihre Wangen.
"Also Benedict, ich dachte du wärst gleich nach dem Konzert gegangen. Es tut mir so leid, dass du zu solch einer Szene herkommen musstest. Setz dich doch zu uns."
Ein kokettes Lächeln zierte ihre vollen Lippen und sie machte eine einladende Geste zum Tisch und den beiden anderen Männern, während sie Audrey einen kurzen, giftigen Blick zuwarf. Benedicts Miene blieb unverändert, als er jede einzelne der drei Personen kurz direkt ansah.
"Nein Danke, Juliet. Ich wollte gerade meine reizende Begleitung fragen, ob wir gehen möchten. Außerdem scheinst du ohnehin schon in bester Gesellschaft zu sein."
Er sah bei den letzten Worten nochmals besonders kühl den sportlicheren der beiden Männer an, dieser schenkte ihm wiederum ein schmieriges Grinsen.
"Jetzt wundert es mich auch nicht mehr, dass sie so eine Mulatte wie sie reingelassen haben. Aber einen guten Geschmack in Escortdamen hast du, das muss man dir lassen."
Audrey riss nun endgültig der Geduldsfaden und sie ließ ihrer wild gewordenen Flamme freien Lauf.
"Jetzt ist es genug!"
Rief sie voller Wut und schnippte dem unausstehlichen Schönling direkt vors Gesicht, sich dabei überraschend präzise an eine lautlose Formel erinnernd.
"Du sagst heute kein Wort mehr, da kommt ohnehin nur Schund heraus. Einfach unglaublich."
Perplex sah der junge Mann zu ihr auf, unfähig auch nur einen weiteren Mucks von sich zu geben. Sein Mund blieb fest verschlossen, ebenso verwirrt blickten seine beiden Freunde drein.
"Jetzt sag doch was Michael, du wirst dir doch nicht von so einer den Mund verbieten lassen."
Quiekte sein Nebenmann aufgebracht. Jetzt da Audrey ihn kurz genauer ansah, hatte er tatsächlich leichte Ähnlichkeiten mit einem besonders zerknautschten Eber. Auch Juliet stürzte um den Tisch herum und schüttelte Michael heftig, dabei zusammenhangslose Befehle und Flüche ausstoßend. Audrey wandte sich teilnahmslos ab, griff zunächst nach Benedicts Hand und schließlich nach der von Martin.
"Kommt, gehen wir. Diese Feier ist sowieso viel zu spießig."
Dann manövrierte sie ihre verdutzt dreinblickenden Freunde in leichten Schlangenlinien aus dem Saal hinaus, bis sie schließlich in die mittlerweile hereingebrochene Nacht hinaustraten. Nun ließ sie endlich von Martin und Benedict ab. Sie atmete tief die frische Luft ein, bevor sie sich direkt zu Benedict drehte, und ihm entschieden gegen den Brustkorb tippte.
"Wehe, du lädst mich irgendwann nochmal zu so einer schnöseligen Veranstaltung ein. Das war grausam."
Er hob abwehrend die Hände und fuhr sich dann verlegen durch die Haare, die nun langsam wieder in ihre zerzauste Form zurückkehrten.
"Ich versprech's hoch und heilig. Du warst echt beängstigend."
"Durchaus. Sie hat mehr ihren Mann gestanden als manch anderer hier."
Martin hatte schnell seine Fassung wiedererlangt und trat nun mit verschränkten Armen vor der Brust näher zu ihnen heran. Sein Blick schweifte kurz in einem seltsamen Funkeln zu Audrey und blieb dann stoisch an Benedict haften. Dieser biss sich beklommen auf die Unterlippe und löste entschieden die Fliege von seinem Kragen. Nicht mehr als ein Flüstern verließ seine Kehle.
"Es ist schwieriger als du denkst, okay?"
"Ich weiß schon."
Martins Blick wurde wieder sanfter und er schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter. Dann zog er seine silberne Schatulle aus der Hosentasche und reichte Benedict eine der selbstgedrehten Zigaretten. Er nahm sich selbst auch eine und zündete sie an, während er den leisen Dank seines Freundes abwinkte. Audrey blickte misstrauisch zwischen den beiden hin und her, sah aber von einem unnötigen Nachfragen ihrerseits ab. Sie würde ohnehin keine Antworten bekommen, das war ihr klar. Noch immer kochte das leichte Adrenalin in ihren Adern und sie wippte leicht von einem Bein auf das andere, als sie selbst wieder das Wort ergriff.
"Und was machen wir jetzt? Die Nacht ist immerhin noch jung."
"Wollen wir uns vielleicht einfach etwas Ungesundes zu Essen holen und bei mir Platten hören? Romi ist eh nicht da, an den Docks ist heute irgendeine private Fete."
Schlug Benedict vor und ließ sich von Martin seine Zigarette anzünden. Graue Rauchlinien stiegen langsam an den dunklen Fassaden zum Himmel hinauf.
"Aber nichts von den Beatles."
Erwiderte Audrey, während sie vorsichtig ihre Steckfrisur löste und die Haare in ihrer lockigen Pracht wieder offen fallen ließ. Dann sah sie ihre Freunde vielsagend an.
"Mir gelüstet es nach aufregenderen Alben."
"Ich hab ihr letztens die 'The Final Cut' gezeigt."
Erklärte Martin, schnippte seine Zigarette weg und fügte hinzu.
"Das hat wohl schlafende Hunde in ihr geweckt."
"Ach so? Dann können wir ja langsam mit den interessanten Gruppen anfangen. Wie wäre es mit der 'Bröselmaschine'?"
Ein ehrlich aufgeregtes Lächeln schlich sich auf Benedicts Lippen und sie setzten sich langsam in Bewegung Richtung Duke Street. Martin gab ein bestätigendes Geräusch von sich, schien dabei aber auch selbst noch zu überlegen. Laut dachte er nach.
"Vielleicht passt heute aber auch die britische 'Kaleidoscope' ein wenig besser, zu dem sommerlichen Wetter hört sie sich besonders schön."
"Das ist auch eine gute Idee."
Stimmte Benedict zu und warf einen beiläufigen Blick auf seine Armbanduhr, die Audrey erst jetzt auffiel. Sie hatte ihn noch nie mit Armschmuck gesehen, er war auch eindeutig keine Person für Accessoires und trug meist lediglich eine handgewebte Kette aus Ghana um den Hals. Diese fehlte heute jedoch. Er seufzte.
"So jung ist die Nacht tatsächlich doch nicht mehr, die ganzen Imbissbuden haben schon längst zu."
"Ist das nicht nur halb so wild? Zur Not kochen wir uns schnell was."
Antwortete Audrey und unterdrückte den plötzlichen Impuls eines ausgiebigen Gähnens. Sie bogen von der Coldquitt Street in die Duke Street ein. Das vertraut verwahrloste Eckhaus war im schummrigen Schein der Straßenlaternen bereits zu sehen. Benedict kramte in der Hosentasche nach seinem Schlüssel.
"Stimmt, Romina hat auch erst die Woche frisch eingekauft. Sie wollte sich eigentlich heute vor ihrer abgedrehten Fete an Pelmeni versuchen. Wenn wir Glück haben, hat sie das auch durchgezogen und was übergelassen."
"Was sind denn Pelmeni?"
Erkundigte sich Audrey neugierig. Benedict sperrte die knarzende Haustür auf, Martin übernahm das Beantworten der Frage.
"Mit Fleisch gefüllte Teigtaschen. Schmeckt recht gut, wobei ich Piroschki lieber habe."
"Blöd für dich, dass Saschas Leibspeise nun mal Pelmeni sind."
Entgegnete Benedict und fügte an Audrey gewandt hinzu.
"Romi will ihm nämlich zu seiner Rückkehr ein riesiges Dinner auftischen. Letzte Woche hat sie sich schon an Borschtsch versucht, es war köstlich."
"Das ist ja lieb von ihr. Jetzt mag ich irgendwie alles davon probieren."
Sie folgte Benedict in die dunkle Wohnung, Martin ließ ihr den Vortritt und schloss die Tür dann hinter ihnen. Es war angenehm kühl. Sie betraten den Wohnraum und jeder schlug eine andere Richtung ein. Audrey machte es sich auf dem längeren der beiden Sofas bequem, Martin durchforstete gleich den Schrank unterm Plattenspieler nach der richtigen LP und Benedict versuchte im Kühlschrank die erhofften Pelmeni zu finden. Er hatte Glück, welches jedoch nicht lange währen sollte. Denn als die beiden Männer sich zu ihrer Freundin wanden, um freudig den erfolgreichen weiteren Verlauf des Abends zu verkünden, war Audrey bereits friedlich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.

Ihr entging so leider, wie ihre beiden Freunde genüsslich die Pelmeni verputzten und dabei in tiefgründigen Gesprächen eine nach der anderen LP anhörten. Zum frühen Sonnenaufgang schließlich verstummten die leisen Stimmen und als die Nadel gemütlich in die Auslaufrille glitt, hatte der Schlaf auch endlich Martin und Benedict übermannt - kurz bevor Audrey ihre Augen aufschlug und sich ausgiebig streckte. Sie wandte ihren schläfrigen Blick zum Fenster und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen in das Zimmer eintauchten und es in sanft goldenes Licht hüllten. Ein herzhaftes Gähnen entfuhr ihrer Kehle und sie setzte sich auf. Der gestrige Abend lag ihr noch immer schwer in den Knochen, machte sie ungeheuerlich schlapp. Sie strich sich die zerzausten Locken aus dem Gesicht und blickte sich um. Das Wohnzimmer lag in einer geborgenen Stille da, die hin und wieder lediglich von einem leisen Schnarchen seitens Benedict unterbrochen wurde. Er lag selten seltsam da und hatte den Kopf auf verschränkten Armen gebettet, in einer halb liegenden, halb sitzenden Position zu ihrem Sofa hin. Martin hingegen glich in seiner Haltung fast einem Vampir, der starr in seinem Sarg ruhte. Audrey schmunzelte, stand auf und schaltete den Plattenspieler aus, dessen Nadel noch immer emsig die Auslaufrille des Vinyls bespielte. Sie entschied sich dazu, ihren Freunden eine freundliche Notiz auf dem Küchentresen zu hinterlassen und verließ dann auf leisen Sohlen die Wohnung. In ihr bahnte sich die sehnsüchtige Freude auf eine morgendliche, erfrischende Dusche und ein reichhaltiges Frühstück an. Die warme Brise des sommerlichen Windes streifte sanft ihre Wangen, als sie hinaus auf die Straße trat und im nachdenklichen Schritt Richtung Hanover Street ging. Über Ropewalks hing noch ein Schleier der Ruhe, welcher sich erst zum späteren Vormittag hin heben sollte. Denn erst dann würden die vielen Studenten langsam von ihren erholsamen Träumen erwachen und die Nachwehen der samstäglichen Abendveranstaltungen vielleicht überstanden haben. Audrey überquerte die Straße und blickte hoch in den wolkenlosen hellblauen Himmel. Ihre Gedanken kreisten Schritt für Schritt zur gestrigen Auseinandersetzung zurück und in ihrer Kehle breitete sich von Neuem ein dicker Kloß aus. Sie spürte, wie ein kühler Schauer ihren Rücken hinuntersauste und sie schüttelte sich angeekelt. Noch immer ruhte eine tiefe Wut über die Hochnäsigkeit und Ignoranz von Benedicts Mitstudierenden in ihr. Dieser Groll wollte einfach nicht verschwinden, egal wie sehr sie versuchte ihn zu ignorieren. Wie konnten Muggel nur so widerlich sein? Waren sie wirklich so verblendet und sahen deshalb nicht, dass jeder Mensch den gleichen Wert in sich trug? Alles in ihr sträubte sich das zu glauben. Sie bog von der Parker Street in die Tyrer Street ein und blieb stirnrunzelnd vor einem augenscheinlich schmutzigen Eckhaus stehen. Heute war das darin wohnende Geschäft eindeutig geschlossen, aber auf dem schmalen Eingangspodest saß ein kleines, getigertes Tier, das Audrey eindringlich ansah. Diese blieb stehen und musterte das katzenähnliche Wesen ebenso interessiert. Es war von einer auffällig orangenen Farbe und hatte eine lange, spitze Nase, die durch die dafür aber großen, treuen Augen nur leicht zur Geltung kam. Die Ohren waren aufmerksam aufgestellt und ließen das schmale Gesicht noch ein wenig kleiner wirken. Der Schwanz war am Ende geknickt und von einem cremefarbenen Weiß. Audrey trat näher und legte den Kopf leicht schief. Vor der vermeintlichen Katze, die sich nun erhob und ausgiebig streckte, lagen ein abgenutzter Federkiel und vergilbtes Pergament. Audrey kam eine Idee und sie ging vor dem Podest in die Hocke.
"Ein kleiner Botengänger, das kenne ich sonst nur aus Rio und Bogota." 
Murmelte sie leise und kramte in ihrer Tasche nach einem ihrer kleinen Notgroschen, welche sie eigentlich immer bei sich trug. Das Glück war auf ihrer Seite und mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen legte sie der Katze zwei Sickel vor die kleinen Pfoten, bevor sie nach dem Federkiel griff und eine krakelige Notiz auf einem Stück der Pergamentrolle hinterließ. Diese riss sie dann vorsichtig ab und reichte sie dem pelzigen Boten, welcher sie vorsichtig zwischen die spitzen Reißzähne klemmte und ihr durch die bernsteinfarbenen Augen zublinzelte. Vorsichtig streichelte Audrey das Tier zwischen den Ohren.
"Die Nachricht ist wirklich sehr wichtig, deshalb stell sie bitte so schnell zu wie möglich. Ich glaube du findest den Empfänger bestimmt schnell, immerhin arbeitet er hier."
Sie erhob sich wieder, während die Katze sich selbst in Bewegung setzte und flink aus der Gasse huschte. Als auch Audrey auf die nächste Straße trat, waren Pergamentrolle, Geld wie auch Federkiel plötzlich verschwunden und zurück blieb eine leere, trostlose Gasse mit ihren baufälligen Fassaden.

The Sound Of MagicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt