Ein ungebetener Gast

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Bedrohlich wetzte der Papagei seinen geschwungenen, spitzen Schnabel an der leicht angelaufenen Scheibe. Er fixierte sein Gegenüber fest mit den kalten, ausdruckslosen Augen. Eine ungeduldige Atmosphäre ging von ihm aus, als hätte er bereits eine geraume Zeit wartend auf dem Sims verbracht. Audrey schluckte schwer. Sie überlegte, ob ihr nicht doch noch genügend Zeit blieb, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen. Ihre Lage schien ihr jedoch beängstigend aussichtslos. Mit zusammengebissenen Zähnen machte sie langsam einen zögerlichen Schritt auf das Fenster zu und öffnete es schließlich. Die Scharniere knarzten protestierend. Das Herz hämmerte ihr schmerzhaft wie kleine Messerstiche gegen die Brust. Der Papagei streckte ihr krächzend sein Bein entgegen. Unbeholfen löste sie den Brief von seinen Klauen, ihre Hände zitterten dabei wie Espenlaub. Der Umschlag fühlte sich glatt wie Seide an und schmiegte sich still an ihre Haut. Audrey blickte unverwandt zu ihm hinab, bevor sie sich wieder dem Vogel zuwandte. Dieser drehte sich gemütlich um, spannte die weiten blauen Flügel auf und erhob sich anmutig in den schwarzen Nachthimmel. Es wurde totenstill. Sie schloss das Fenster, legte den Brief auf der Kommode ab. Er begann zu zittern. Sie biss sich fest auf die Innenseite ihrer Wange.

AUDREY BRIXFORD!

Der Brief schoss in die Luft. Aus seinem Umschlag formte sich ein breiter, zahnloser Schlund. Audrey spürte, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Die bestimmte, raue Stimme ihrer Großmutter rauschte ihr in der markanten, portugiesischen Sprachmanier durch die Ohren. Sie ließ ihr das Herz in die Hose rutschen. 

Menina mimada! Was habe ich da zu hören bekommen? Wie kannst du es nur wagen deine Arbeit zu kündigen!? Erst setzt Oliver - aquele soldadeco - sein Talent in den Sand und jetzt du?! Deine Mutter und ich sind das Gespött des gesamten Dorfes! Noch nie bin ich so beschämt... nein, enttäuscht worden! Hat euch euer soldadeco von Vater etwa nur Flausen in den Kopf gesetzt? Von Oliver war ja nichts anderes zu erwarten, er war schon immer ein Casanova. Wie der Vater, so der Sohn, nicht wahr? Aber du?! Wie kannst du dein Talent nur so verschwenden! Was ich dir alles beigebracht habe. Wie viel Zeit wir zusammen im Laden und Garten verbracht haben! Soll das umsonst gewesen sein?! Ich habe dir all mein Wissen anvertraut und du wirfst es einfach so weg?! Eure Eltern haben auf ganzer Ebene versagt! Vor allem deine Mutter. Mir hätte es gleich klar sein sollen, als du unbedingt nach Hogwarts gehen wolltest. Bei Rialda war es ja nicht anders. Kaum verlässt sie die Heimat, bringt sie auch schon deinen soldadeco von Vater mit. Wir hätten dich auf Castelobruxo lassen sollen! Senhor Persaud hätte dir mit Sicherheit diese Flausen ausgetrieben. Diese verdammten britischen Flausen. Und das dreckige Wetter dort drüben hat dir wohl auch noch den Rest deiner Sinne vernebelt. Es ist an der Zeit, dass du wieder nach Hause kommst, so kann es nicht weitergehen. Ich habe dir ein Ticket für die 'Segelnde Mary' gekauft und lasse es dir mit diesem Schreiben zukommen. Die Fähre geht kommenden Freitag vom Porthmelgan Beach aus. Das ist im Westen von Wales. Ich gehe davon aus, dass du mit ihr fahren wirst, sonst kannst du es vergessen, mir jemals wieder unter die Augen zu treten!

Komm zur Vernunft Audrey! Du kannst nicht vor deiner Verantwortung davonlaufen, deine Enttäuschung von deinem Bruder genauso wenig!

Der Brief gab ein finales, gurgelndes Geräusch von sich, bevor er in dutzende kleine Papierschnipsel zersprang und diese nahezu andächtig zu Boden rieselten. Übrig blieb lediglich ein schnörkelig verziertes Ticket, welches auf der Bettkannte zum Liegen kam und das Buffet auf der Fahrt mit der 'Segelnden Mary' bewarb. Audrey starrte es in einer versteinertem Miene an. Sie hatte ihre Hände zu festen Fäusten geballt. Dies bemerkte sie jedoch erst, als sie diese aufgrund ihres starken Zitterns nicht länger halten konnte. Ihre Zähne klapperten leise, die Unterlippe begann zu beben. Ein unerträgliches Gefühl der Übelkeit breitete sich in ihrer Magengegend aus, trieb ihr noch den Rest an Farbe aus dem Gesicht. Die Freude und Bestätigung des Tages waren verflogen. Zurück blieb eine unendliche Trostlosigkeit. Am liebsten hätte Audrey losgeschrien und dabei vor Wut mit Dingen um sich geworfen, doch sie blieb stumm. Zögerlich griff sie nach dem Ticket, sah es lange durch leere Augen an. Dann zerriss sie es in ebenso kleine Teile wie den Brief und ließ diese zu dessen Schnipseln hinabregnen. Niemals würde sie freiwillig zurückgehen, schon gleich dreimal nicht nach solch einer Ansage. Was sollte ihre Großmutter schon tun? Ihr noch einen Heuler schicken? Solle sie doch wüten wie ein Teufel, Audrey war das herzlich egal. Eine unaussprechliche Wut stieg ihre Kehle hinauf. Oh, wie sie sich ärgerte, ihr nicht die Stirn bieten zu können. Aber ehrlich gesagt war sie sich auch um einiges zu fein, einfach einen Heuler zurückzuschicken. Feuer bekämpfte man immerhin nicht mit Feuer. Das hatte ihr ihre Mutter zumindest immer wieder behaglich mahnend gesagt, wenn sie sich mal wieder mit Oliver zerstritten hatte. Auf eine Antwort dieses Idioten wartete sie auch noch immer vergebens. Als sie sich nach dem radikalen Bruch mit Wohnung und Arbeit endlich in ihrem Zimmer eingerichtet hatte, hatte sie sich - erneut innerlich mit sich ringend - dazu überwinden können, ihm einen längeren Brief zu schreiben. Ebendiesen Brief schien Oliver jedoch seit nun einem guten Monat zu ignorieren. Wie dreist.
Es klopfte laut an der Tür. Audrey schluckte schwer. Der Heuler musste sehr laut gewesen sein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, in welch misslicher Lage sie sich eigentlich befand. Mittlerweile war es später Abend und sie war streng genommen noch immer nicht mehr als ein Hotelgast, obwohl sie schon seit fast zwei Monaten in ihrem Zimmer lebte. Nun wurde ihr wieder übel. Das würde ein kräftiges Donnerwetter geben. Sie atmete tief durch. Dann öffnete sie die Tür, setzte dabei ihr unschuldigstes Lächeln auf. Vor ihr stand ausgerechnet der eine Nachtportier, welchem sie am liebsten die Tür sofort wieder vor der Nase zugeschlagen hätte. Mit wütendem Blick starrte er zu ihr herab, sein breiter Schnauzer bebte förmlich unter hörbaren Ein- und Ausatmen. Die grauen Haare lagen flach und schmierig auf seinem bohnenförmigen Kopf. Das Hemd seiner Uniform spannte weit über dem Wohlstandsbauch, wurde durch einen zu enganliegenden Gürtel gerade so in Position gehalten. Audrey öffnete den Mund, um zu einer Begrüßung anzusetzen. Jedoch kam sie nicht dazu, auch nur ein Wort zu sprechen.
"Pass mal auf, Missy."
Jetzt wurde sie schon von der zweiten Person an diesem Abend angeschrien. Er klang wirklich sehr aufgebracht. Audreys Mund verzog sich zu einer dünnen Linie.
"Mir ist es ja egal, was für Dinge du auf dem Zimmer hier treibst. Aber wenn du dabei die anderen Gäste störst, ist mir das nicht mehr egal, verstanden?"
Er spie ihr die Worte nahezu ins Gesicht. Speichelpartikel flogen dabei aus seinem Mund, verhedderten sich in seinem Bart oder landeten auf ihren Wangen.
Sie verzog angeekelt das Gesicht.
"Es tut mir leid, ich...".
"Nichts hier, es tut mir leid! Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl, so eine wie dich hier wohnen zu lassen. Und sieh an, es hat sich natürlich bestätigt."
"Entschuldigung? So eine wie ich?"
Audrey verschränkte die Arme vor der Brust. Sie spürte förmlich, wie ihr eine neue Flut an Wut in die Kehle stieg.
"Eine Dirne, was denn sonst. Etwas anderes kann man von euch Ausländerpack doch sowieso nicht erwarten. Beziehen ein Hotelzimmer, weil sie nichts anderes finden und arbeiten dann auch noch schwarz, oder verkaufen gleich ihren Körper. Dabei zieht ihr den ganzen Ruf des Viertels, gar der Stadt in den Dreck."
Sie glaubte sich verhört zu haben, konnte kaum ihren Ohren trauen. Ihre Wut wich dem puren Entsetzen. Was sollte sie darauf nur antworten. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Noch nie hatte sie jemand so dreist auf ihr Äußeres, auf ihre Wurzeln reduziert und dabei mit solch verachtenden Spekulationen um sich geworfen.
Ihr Schweigen schien das Feuer ihres Gegenübers nur noch mehr zu entfachen.
"Ich sollte dich sofort des Hauses verweisen. Aber ich will ja kein Unmensch sein. Entweder du bezahlst für die Nacht doppelt, oder wir werden uns auf eine andere Weise einig. Morgen früh bist du aber verschwunden."
Audrey zögerte keinen Moment, griff nach ihrem Portemonnaie und drückte dem Portier fünfzig Pfund in die Hand.
"Keine Sorge, in solch einem Drecksloch möchte ich sowieso keine weitere Nacht verbringen. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, bevor ich mich noch vergesse, seu pervertido!"
Jetzt konnte sie ihm endlich die Tür vor der Nase zuknallen und ihrer Wut für einen Moment freien Lauf lassen. 

The Sound Of MagicWhere stories live. Discover now