Audrey

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Der erste Zaubererkrieg trug sich weit entfernt von Audreys wohl behütetem Zuhause zu. Ihre Eltern waren Anfang der 1970er Jahre mit Oliver an der Hand von Mr. Brixford und Audrey in Mrs. Brixfords Armen aus dem gemeinsamen, kleinen Anwesen inmitten der Hügelketten der South Downs in der Grafschaft Sussex, England, verschwunden und mit der 'Segelnden Mary', ein Tochterunternehmen des 'Fahrenden Ritters', an die Ostküste Brasiliens geflüchtet. Wenn die unübliche Reise nach Mr. Brixfords Willen verlaufen wäre, hätte sich die junge Familie zu der Verwandtschaft nach Irland abgesetzt. Jedoch bestand seine Frau Rialda darauf, bei den Schwiegereltern in ihrem Heimatort, Minoria, einem kleinen Zaubererdorf versteckt vom tiefen brasilianischen Regenwald und der Insel Melancia, unterzukommen. Wenn auch widerwillig kam Ernest Brixford dem Wunsch seiner Frau nach, immerhin konnte er sich schlecht gegen ihr eindeutig von der Mutter geerbtes Temperament durchsetzen und einen Streit vor den damals noch kleinen Kindern wollte er noch weniger riskieren. So legte Mr. Brixford schweren Herzens seine Arbeit im Zaubereiministerium nieder – der Beruf war zu diesen verrückten Zeiten sowieso nicht mehr sicher – und freundete sich langsam mit der Tätigkeit an, für seine Frau im Regenwald die richtigen Zutaten für ihre Zaubertränke zu beschaffen. Rialda war nämlich eine begnadete Trankherstellerin, weshalb die Familie auf das Radar der Todesser geraten war. Nur hatte sie trotz ihres makellosen Abschlusses das peinliche Problem, ihre Zutaten nicht in der freien Natur erkennen zu können. Kräuterkunde war leider nie eine ihrer Begabungen gewesen, zur Enttäuschung ihrer Mutter. Diese war ebenso eine vortreffliche Brauerin, allgemein lag dies wohl in der Familie. Und während also Mr. Brixford im brasilianischen Regenwald nach den richtigen Früchten, Kräutern und anderen Pflanzengewächsen für seine Frau suchte, wuchsen Oliver und Audrey ganz sorglos und wohlbehütet im idyllischen Minoria auf – ganz ohne Furcht vor dem in Großbritannien wütenden Zaubererkrieg.

Sowohl Oliver als auch Audrey zeigten ihr magisches Talent im frühen Kindesalter – das ganz zum Entzücken der Mutter und Großmutter. Audrey war ein besonders aufgewecktes, junges Mädchen. Sie liebte es auf den morschen Stegen des kleinen Hafens herumzutollen und dabei den aufgeschreckten Fischen im klaren Meereswasser zuzusehen, während Rialda Brixford sie immer wieder aufs Neue ermahnen musste, sich nicht zu tief über das wackelnde Geländer zu lehnen. Oliver war um einiges ruhiger als seine jüngere Schwester und verstand sich darin mit seinem spitzbübischen Charme jeden um sich herum zu verzaubern. Er hatte eine ebenmäßig gebräunte Haut, dichte dunkle Wimpern und wilde, große Locken, welche verspielt sein freches Gesicht umrahmten. Im gesamten Dorf wurde er 'príncipe bonito' genannt, wohingegen Audrey schmunzelnd als 'pequeno turbilhão' bezeichnet wurde.
Sobald die Geschwister alt genug waren, begleiteten sie Mr. Brixford in die Tiefen des unberührten Regenwaldes. Dort lernten sie die verschiedensten Kräuter und andere Gewächse kennen als auch einige ungefährlichere, magische Tierwesen wie Flubberwürmer oder sogar kleine Schnatzer. Minoria glich weniger einem Dorf als einer großen, familiären Gemeinschaft verschiedenster Zauberer mit den unterschiedlichsten Talenten. Jeder half dem anderen, worin er nur konnte, und erhielt auch die Hilfe, die er brauchte. Es war ein idyllisches, ruhiges Leben und die Zeit schien nahezu stillzustehen. Zumindest bis Oliver 1978 die offizielle Einladung erhielt, am begehrten Internat 'Castelobruxo' unterrichtet zu werden und ab September ebendiesen Jahres trat er mit unzähligen anderen jungen Zauberern und Hexen aus ganz Südamerika das erste Lehrjahr an der brasilianischen Zauberschule an.

Zwei Jahre nach ihrem großen Bruder erhielt auch Audrey endlich den lang ersehnten Brief aus 'Castelobruxo'. Es war ein außergewöhnlich heißer, sonniger Tag Mitte Juli. Das brünette Mädchen mit den wilden Locken guckte Oliver ganz neugierig über die Schulter, während dieser voller Konzentration versuchte an seinen Kräuterkunde Hausaufgaben zu arbeiten. Sie bemerkte den großen buntgefiederten Papagei gar nicht, welcher auf dem Sims des Küchenfensters gelandet war und ungeduldig mit den Krallen scharrte. Erst als er aufgebrachte, krächzende Geräusche von sich gab, wandte sich Audrey zu ihm um und stieß einen überraschten Freudenschrei aus. Schnell nahm sie dem majestätischen Vogel den Brief ab und riss diesen höchst ungeduldig auf. Dabei ignorierte sie den hellgrün verzierten Umschlag mit der anmutig geschwungenen Schrift und dem runden dunkelblauen Siegel. Nachdem sie den Brief schnell überflogen hatte, fiel sie ihrem großen Bruder freudenstrahlend um den Hals und machte sich danach sofort auf den Weg, dem ganzen Dorf von den großen Neuigkeiten zu berichten.

Je älter Audrey wurde, desto mehr stellte sie fest, dass sie wohl mehr und mehr nach ihrer Mutter kam – zumindest was ihre Fähigkeiten im Zaubertrankunterricht betraf. Im zweiten Schuljahr hatte sie sich langsam einen Namen als begabte, kleine Brauerin gemacht, im dritten bezeichnete man sie bereits als extraordinär und ab dem vierten Jahr wurde sie als die Koryphäe der Kräuterkunde und Zaubertränke gefeiert. Böse Zungen wagten es sogar zu behaupten, der eigentliche Lehrer, Senhor Persaud, könnte selbst noch von ihr lernen, anstatt ihr etwas zu lehren. In Minoria wurde sie der ganze Stolz der Familie. Sie käme ganz nach ihrer Mutter, diese wiederum nach ihrer und diese wiederum nach ihrer, so pflegte ihre Großmutter es jedem zu erzählen, der ihr nicht früh genug ausweichen konnte. Audrey wusste nicht viel mit der Aufmerksamkeit, die sie nun genoss, anzufangen und erwischte sich immer wieder dabei, wie sie sich in die Tiefen der Bibliothek flüchtete, um wissensdurstigen oder nach Hilfe bettelnden Mitschülern zu entgehen. Obwohl sich die anderen Studenten nahezu ehrfürchtig um sie scherten, begann sie sich immer einsamer und abgeschotteter zu fühlen. Und als der Schulleiter sie eines Nachmittags im Frühjahr 1984 in sein Büro bat, um ihr eine Einladung zur Vollendung ihres Abschlusses in Hogwarts anzubieten, zögerte sie keine Sekunde und willigte nahezu sofort ein.

The Sound Of MagicWhere stories live. Discover now