Jahreswechsel

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Audrey schlief eine Nacht über Cecilias großzügiges Angebot und entschied sich letztendlich dazu, dieses anzunehmen. Nicht aber, ohne sich vorher über ihren Anteil der Miete zu erkundigen und diesen mit ihrem Lohn abzugleichen. Nachdem dieser bürokratische Papierkram vom Tisch war, brachte sie an einem eisigen Morgen kurz vor Weihnachten ihre augenscheinlich wenigen Habseligkeiten in die industriell eingerichtete Galeriewohnung eines hohen grauen Backsteinhauses des Hatton Garden. Mithilfe von Romina und Benedict wurde Cecilias geräumiges Arbeitszimmer geleert und die entsprechenden Möbel hinauf in die Galerie getragen. Die junge Autorin schien sich sichtlich über ihren neuen Bürostandort zu freuen, immerhin konnte sie so den Direktzugang zu ihrer urigen Dachterrasse bewundern und die hervorragende Aussicht während der Arbeit genießen. In Audrey entflammte der Gedanke, dass mit dieser spontanen Aktion vielleicht mehr als nur eine Fliege mit der Klappe geschlagen worden war. Allgemein war Audrey über die immense Größe und der dazugehörigen Ausstattung des Apartments ihrer Freundin erstaunt und im Anbetracht der explodierenden Preise des Wohnungsmarktes konnte sie auch keine vernünftige Erklärung finden, wie sich Cecilia als Teilzeitkraft solch einen nahezu luxuriösen Lebenswandel leisten konnte. Audrey spürte, wie sich eine grenzenlose Neugierde in ihr ausbreitete und auf die Frage hin, ob ihre Freundin eigentlich Millionärin sei und lediglich zum Zeitvertreib in Emilys Buchhandlung arbeitete, hob Cecilia lediglich die Schultern und antwortete.
"So etwas in der Art."
Audrey gab sich fürs erste damit zufrieden und bohrte nicht weiter nach, zumal Romina und Benedict darauf drängten weiter mit dem Umzug voranzukommen.
Während Cecilia in ihrer Wohnung zurückblieb, um ihr Büro wieder einzurichten, zwängte sich Audrey zwischen Rominas gefühlt unzähligen Gepäckstücken auf den Rücksitz des grauen Ford Cortinas eines befreundeten Kommilitonen ihrer Freunde und sie brausten über die Innenstadt zur Lime Street und den dort gelegenen Hauptbahnhof. Benedict hielt notgedrungen mit Warnblinklicht am Straßenrand und Audrey reichte Romina, welche bereits aus dem Auto gehechtet war, ihre Taschen vor.
"Danke fürs Mithelfen Romina, du hast was gut bei mir."
Diese winkte ab.
"Nicht der Rede wert. Ich wünsch euch schonmal frohe Weihnachten und stresst euch heute nicht mehr so viel. Wir sehen uns im neuen Jahr wieder."
Dann schlug sie die Tür sanft zu und hob zum Abschied die Hand, während Benedict den Gang einlegte und sich das Auto schließlich in Bewegung setzte.
Audrey kletterte vom Rücksitz nach vorne und schnallte sich an.
"Wenn sich jemand heute wohl nicht noch weiter stressen sollte, dann wohl sie. Wir waren doch überpünktlich, oder? Aber sie scheint sich nicht unbedingt auf ihren Trip nach Hause zu freuen."
Ihr Gesprächspartner schwieg für einen Moment, bevor er ihr doch antwortete.
"Naja, ich denke mal die wenigsten hätten Lust auf einen mindestens zehn Stunden Flug, nur um die mehr oder weniger geliebte Familie zu besuchen. Außerdem wurde für die gesamte Woche über Frost und Schneefall angesagt, wer wäre da nicht gestresst."
"Touché."
Audrey legte den Kopf leicht schief. Ihr war zwar bewusst, dass Rominas familiäre Situation sie eigentlich nichts anging, jedoch konnte sie ihre Neugierde nicht noch ein weiteres Mal einfach herunterschlucken.
"Hat sie deshalb in letzter Zeit so viel telefoniert?"
Benedict warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu und schien ein wenig unentschlossen, was oder eher wie viel genau er ihr erzählen sollte. Er entschied sich wohl für eine Art Mittelweg.
"Nicht ganz. Mit ihrem älteren Bruder telefoniert sie eigentlich mindestens einmal die Woche, immerhin stehen sich die beiden recht nah. Ich glaube aber tatsächlich, dass sich Lucia mal wieder gemeldet hat - zumindest war Romis Stimmung dementsprechend."
Audrey wollte schon dazu ansetzen noch weiter nachzufragen, aber in diesem Moment parkte Benedict das Fahrzeug vor einem der unzähligen Studentenwohnheime, welche rund um die University of Liverpool lagen, und erhob nochmals die Stimme.
"Wenn du aber noch mehr wissen willst, musst du sie selbst danach fragen. Und jetzt komm, Saschas Auto wird sich nicht von selbst beladen."

Durch einen unauffälligen Wink mit dem Zauberstab fanden in dem durchaus geräumigen Kofferraum des Ford Cortina ein zerlegtes Bettgestell, der dazugehörige Lattenrost und die Einzelteile einer Kommode Platz. Die zusammengerollte Matratze schnallte Benedict in fachmännischer Manier mit zwei Seilen, welche als Sicherungsgurte dienen sollten, auf dem Dach fest. Währenddessen prahlte er mit seinen hervorragenden Tetris-Kenntnissen, die seiner Meinung nach für das erfolgreiche Verstauen der wuchtigen Möbelstücke verantwortlich waren. Audrey stimmte ihm dahingehend mit einem wohlwollenen Schmunzeln zu - auch, wenn sie sich dabei fragte, was genau Tetris sein sollte und inwiefern man damit Kofferräume beladen konnte. Aber das würde sie bestimmt noch an einem anderen Tag herausfinden, immerhin war ihr Umzug nun um einiges wichtiger. Während Cecilia sich zurückzog, um ihr eigenes Gepäck für die Feiertage zu packen, verbrachten Benedict und Audrey den Rest des Tages also damit, das Bett und die Kommode so zusammenzubauen, dass beides funktionstüchtig war und auch dementsprechend aussah. Ohne eine entsprechende Bauanleitung war das jedoch um einiges schwieriger als erwartet und so standen die Möbelstücke erst sicher an ihren Plätzen, als die Sonne schon lange hinter dem Horizont verschwunden war und bereits ein Nachbar an der Wohnungstür geklingelt hatte, um sich über die dreiste Ruhestörung zu beschweren. Durch eine geschickte Entschuldigung seitens Cecilia gab sich dieser aber mit einer Verwarnung zufrieden und wünschte sogar noch einen schönen Abend. Audrey war das ganz recht so, ihr lag die unfreundliche Begegnung mit dem Nachtportier des 'The Jam Works' vor nicht allzu langer Zeit noch immer schwer in den Knochen.
Sie setzte sich zu Benedict auf ihr frisch bezogenes Bett und lächelte verschmitzt, als sie seinen äußerst selbstzufriedenen Gesichtsausdruck bemerkte.
"Vielen Dank nochmals fürs Helfen, du hast mehr als nur eine Sache gut bei mir und richte auch deiner Kommilitonin ein großes Dankeschön aus. Ihre Möbel sind so wunderschön."
"Nichts zu danken."
Er richtete sich ein wenig auf und unterdrückte augenscheinlich ein herzhaftes Gähnen.
"Gib mir einfach Bescheid, wenn ihr das nächste Mal etwas Interessantes von den 'Beatles' im Laden habt. Marte will mir nämlich nichts mehr verkaufen und meint, ich soll doch endlich anfangen wirklich gute Musik zu hören."
Audrey entfuhr ein leises Lachen, Benedicts dezente Obsession war manchmal doch recht unterhaltsam.
"Aber natürlich. Das bleibt unser kleines Geheimnis."
"Perfekt."
Er streckte sich ausgiebig, bevor er sich wieder mit einem schläfrigen Seufzen in die Matratze zurücksinken ließ.
"Was machst du eigentlich über die Feiertage, besuchst du deine Familie?"
Audrey schüttelte den Kopf, allein der Gedanke an Minoria ließ sie einen unangenehmen Stich im Brustkorb verspüren.
"Nein. Ich werd die freien Tage wohl nutzen, um mich in meinen neuen vier Wänden einzugewöhnen und richtig auszupacken. Und du?"
"Also Audrey."
Die Müdigkeit war Benedict komplett aus der Stimme gewichen und wurde durch pures Entsetzen ersetzt.
"Niemand sollte Weihnachten alleine verbringen. Ich fahr auch nicht zu meinen Eltern, sondern wollte mit Marte einen Schallplattenmarathon starten. Schließ dich uns doch an, das wird bestimmt großartig."
"Na bei so einem verlockenden Angebot kann ich doch nur zustimmen."
Ein breites Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ein warmes Gefühl flickte den vorherigen Schmerz in ihrem Herzen. Vielleicht würde ihr erstes Weihnachten fernab der Zaubererwelt ein ganz anderes, magisches Erlebnis werden.

The Sound Of MagicWhere stories live. Discover now