Briefeulen

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Die Fleet Street lag ruhig in der mittäglichen Stunde da. Obwohl leichter Sonnenschein diesem Samstag einen herbstlich goldenen Schein verlieh, verirrte sich kaum jemand in die kleine Seitenstraße. Dafür fehlten immerhin die bekannten Geschäfte und die Diskotheken wie auch Pubs würden erst am Abend ihre Türen öffnen. In Liverpool war nun endlich ein frühwinterliches Klima eingekehrt. Die Temperaturen waren rasant über die Nacht gefallen und hatten kleine, einzelne Eisblumen auf den Außenseiten mancher Fenster erschaffen. Ein plötzliches Tief aus dem Atlantik schien dafür verantwortlich zu sein, zumindest hatte das der Mann vom Wetterbericht so behauptet. Die Arbeit am Hafen lief trotz Sonnabend wie auf Hochtouren, alle paar Minuten hörte man das laute Horn eines der gigantischen Frachtschiffe ertönen, welche entweder ihr Kommen ankündigten oder ihrer Ungeduld bezüglich anderer Seefahrer und langen Umladungszeiten Luft machten. Der Albert Dock musste wohl komplett überlaufen sein.
   Audrey hatte sich eine Tasse Tee eingeschenkt und setzte sich mit einem tiefen Seufzen an den kleinen Schreibtisch neben dem frisch gemachten Bett. Sie zog ihre graue Strickjacke enger um sich und fröstelte leicht, als sie einen Blick nach draußen warf. So sehr sie die Stadt am vorherigen Tag noch ins Herz geschlossen hatte, desto mehr erinnerte sie Liverpool heute an das trostlose London, das sie eigentlich gerne hinter sich lassen würde. Sie trank vorsichtig einen Schluck und schloss zufrieden die noch immer schweren Augen. Kamille war ihre liebste Sorte, trotz dessen sie dafür immer wieder bei Freunden und Bekannten auf Unverständnis stieß. Ebendiese waren sich ausnahmslos einig, dass dies die langweiligste aller Teesorten sei und es tausend bessere gäbe. Ging es dann aber um mögliche Beispiele, kristallisierten sich plötzlich zig unterschiedliche Meinungen aus der vorherigen Einstimmigkeit heraus und so fühlte sich Audrey mit ihrer Vorliebe für Kamille doch bestätigt. Sie konnte sich immerhin für eine Sorte entscheiden - im Gegensatz zu bestimmten anderen. Wieder seufzte sie schwer. Die vergangene Nacht war unerträglich schwer für sie gewesen. Sie hatte sich ewig im Bett herumgewälzt und kaum ein Auge zubekommen. Zu sehr war sie in ihre Gedanken und Grübeleien vertieft gewesen. So Willkommen hatte sie sich zum letzten Mal bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Charmaine und Samuel im Hogwarts-Express in einer fremden Umgebung gefühlt. Cecilia und Martin hatten es auf Anhieb geschafft, ihr genau dasselbe positive Gefühl zu vermitteln und die vielen Straßen, Hochhäuser und Geschäfte weniger bedrohlich und fremd wirken zu lassen. Jetzt wusste sie dafür aber nicht mehr, was sie mit sich anzufangen hatte. Was hielt sie noch in London? Was konnte sie andererseits in Liverpool erreichen? Und was genau bot ihr eigentlich noch die Zaubererwelt? An Schlaf war da also definitiv nicht mehr zu denken gewesen. Letztendlich war sie im Zuge der Morgendämmerung dann doch endlich eingenickt, bis sie vor ungefähr einer halben Stunde unsanft geweckt wurde. Den Übeltäter sah sie nun durch leicht zusammengekniffene Augen skeptisch an, während sie vorsichtig ihren Tee schlürfte. Es handelte sich beim ungebetenen Gast um niemand geringeren als einen kleinen Waldkauz namens Theobald, welcher Audreys Blick nur zu gerne erwiderte, bevor er sich in aller Ruhe die Federn putzte. Der Brief, den die braune Eule eifrig zugestellt hatte, lag noch immer ungeöffnet neben einem leeren Wasserschälchen. Dieses hatte Theobald, welcher wohl ohne Pause von den walisischen Weiden bis zu Audreys Fenster geflogen war, binnen weniger Minuten dankend geleert. Den kleinen Waldkauz hatte Charmaine von ihren Eltern geschenkt bekommen, als sie zur Schulsprecherin ernannt worden war und von ebendieser stammte auch der Brief. Er trug das hell aventuringrüne Siegel des hoch angesehenen 'Foulkes' Clans und Charmaines auffällig nach links geneigte, hohe Schrift prangerte auf der rechten Seite des Kuverts. Argwöhnisch betrachtete Audrey erneut den beigefarbenen Umschlag, während sie ihren Tee austrank und schließlich Theobald sanft über den schmalen Schnabel strich. Nach einem langen Zögern nahm sie den Brief doch in die Hände und öffnete ihn sorgfältig. Mehrere Seiten an beidseitig beschrifteten Pergament verbargen sich im Inneren und warteten wohl sehnlichst darauf, endlich die Aufmerksamkeit ihres Empfängers zu erhalten. Audrey griff nach ihrem Zauberstab, tippte auf die leere Tasse und befüllte sie so mit frischem Tee. Dann begann sie zu lesen.

The Sound Of MagicWhere stories live. Discover now