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Ben

Song: Miserable Man - David Kushner

Mit jeder verstreichenden Stunde merke ich mehr und mehr, dass ich ein Problem habe.
Ich habe noch nie versucht, aufzuhören, habe noch nie den ernsthaften Versuch unternommen, keine Tabletten mehr zu schlucken.
Jedenfalls nicht bewusst.

Mit dem aktiven Gedanken, für den Moment keine mehr zu nehmen, hat plötzlich das unbändige Verlangen nach der Ruhe in meinem Kopf eingesetzt. Nach der Schwerelosigkeit in meinen Gliedmaßen. Nach dem Ausschalten meiner Probleme.
Wenn ich es mir nicht zum Ziel gesetzt hätte, eine kleine Pause einzulegen, hätte ich es vielleicht geschafft und gar nicht bemerkt, wie mein Körper gegen den Entzug rebelliert.

Ich glaube, ich habe zwei Tage durchgehalten. Oder doch nur einen?
Ich weiß es nicht.
Mein Kopf ist mein größter Feind, das habe ich in dem Nebel zwischen meiner Schädeldecke festgestellt.

Du tust mir wirklich leid. Ophelia.
Du Nichtsnutz willst dich mein Sohn nennen! Dad.
Ben, komm her! Meine Mutter.
Ich will doch nur, dass du mich reinlässt. Eric.

Ich höre sie alle, sehe die Tiefpunkte meines Lebens einen nach dem anderen klar vor meinen Augen, bis meine Hand in die Schublade abtaucht.
Kurz darauf geht es mir besser.
Tabletten schlucken ist nicht so schlimm, wie zu sniefen oder zu fixen, habe ich mir immer gesagt.

Nur ist die Abhängigkeit von Tabletten genauso intensiv und alles verzehrend. Anders kann ich die schwarze Wolke in meinem Kopf nicht bezeichnen.
Plötzlich habe ich Angst vor diesem Ben bekommen, mir war nicht klar, wie tief ich gefallen bin, wenn ich doch eigentlich dachte, dass ich schwebe.

Ich weiß nicht, wie viele Tage ich in meinem Zimmer verbringe, bis ich bemerke, dass Tante Jennifer abgereist sein muss. Aber an dem Tag, an dem ich es bemerke, finde ich auch den Ring, den Eric mir zu irgendeinem Geburtstag geschenkt hat. Eigentlich wollte ich nur nach meinem Nirvana T-Shirt suchen, als ich plötzlich das feine Silber zwischen den Fingern halte.

Ich habe das Geschenk in die hinterste Ecke meines Kleiderschrankes geworfen, in der Hoffnung, ihn nie wiederzufinden, nie wiederzusehen, ohne sagen zu müssen, dass ich ihn weggeschmissen hätte.
Es ist lächerlich, aber mit dem Ring in der Hand brennen mir plötzlich hunderte Worte auf der Zunge, die ich zu diesem Jungen mit den blauen Augen sagen will.

"Was stimmt nicht mit dir?", flüstere ich mir zu.
Doch es hilft nichts, hält mich nicht auf. Ich ziehe mir mein dreckiges Shirt über den Kopf und tausche es gegen eines von dem Stapel ein, den mir Mirella jeden Donnerstag auf den Schreibtisch legt.

Und dann versuche ich Eric anzurufen. Ich will ihn fragen, ob er gerade Zeit hat.
Ich weiß noch nicht mal, welcher Wochentag ist, als ich Ophelias Schlüssel im Eingangsbereich liegen sehe. Und dann sehe ich ihren weißen Mini vor der Haustür stehen. Ich sehe es als ein Zeichen des Himmels an, als Schicksal, obwohl ich an so einen Schwachsinn nicht glaube.

Ich blicke mich nicht einmal um, ob ich beobachtet werde, als ich nach Ophelias Eigentum greife und verschwinde.
Ich fahre auch nicht leise aus der Einfahrt. In meinem Kopf bin ich der Ninja, der ich immer sein wollte. Mein eigener Superheld auf dem Weg zu seiner ganz persönlichen Mission, bei der es um Leben und Tod geht.

Die Straßen sind voll, beinahe finde ich den Weg zu Erics Wohnung nicht mehr.
Mein Herz rast mit gleicher Geschwindigkeit, wie die Gedanken in meinem überhitzten Kopf. In einer Sekunde bin ich sicher, das Richtig zu tun, etwas, dass lange überfällig ist. Dann fühlt es sich so an, als wäre ich dabei, den größten Fehler meines Lebens zu begehen.

Ich will mir zurechtlegen, was ich ihm sagen werde, wenn er die Tür aufmacht - falls er die Tür aufmacht. Mir fällt ein, dass er auch auf der Arbeit in Madison sein könnte und dann vergesse ich den Gedanken gleich wieder, als ich eine Parklücke, in der Nähe seines Gebäudekomplexes finde.
Die Sonne blendet mich und knallt heiß auf meinen Hinterkopf, als ich aussteige. Dennoch weiß ich, dass die schwitzigen Hände nicht auf ihr Konto gehen.

Meine Shorts haben keine Taschen, also behalte ich die Autoschlüssel nervös in der Hand. Ophelia hat einen schwarzen Plüschball an ihrem Schlüsselbund, dessen lange Kunsthaare an meinen Handflächen kleben bleiben, während ich die Straße überquere. Ich hasse das Gefühl.
Mitten auf dem Bürgersteig bleibe ich stehen, nur noch zwanzig, maximal dreißig Schritte, dann würde ich vor seiner Haustür stehen.

"Man! Geht's noch!", flucht jemand hinter mir und überholt mich dann mit aggressiven Schritten.
"Entschuldigung", murmle ich, zu leise, um von irgendjemandem gehört zu werden.
Und dann lege ich dreiundzwanzig Schritte zurück, mit einem silbernen Ring am rechten Mittelfinger und einem Schlüsselbund in der Hand, das mir nicht gehört.

Ich betrachte die Glastür mit Metallrahmen, dann wende ich mich den Klingelschildern zu und suche Erics Namen. Ich finde ihn nicht.
Ich kneife die Augen zusammen und beginne die unzähligen Buchstabenkombinationen erneut von oben nach unten nach dem Namen Cooper abzusuchen.

Aber da ist kein Cooper. Kein Eric Cooper. Im ganzen Haus scheint noch nicht mal ein Eric zu wohnen.
Ich trete einen Schritt zurück und blicke an der Hausfassade empor. Dann lasse ich den Blick über die Straße und die nahegelegene Kreuzung schweifen. Das hier ist das richtige Haus.

Hierhin hat Eric mich mitgenommen. Da oben im zweiten Stock liegt seine unpersönlich eingerichtete Wohnung mit den Elefantenbildern und dem Schlafzimmer, das ich noch nie von innen gesehen habe.
Das kann nicht sein. Das darf nicht sein, denke ich.
Ich weiß nicht, ob ich es auch ausspreche.

Mein Gesicht ist Zentimeter von den kleinen Plastikschildern entfernt und doch kann ich seinen Namen nicht sehen. Als ein Bewohner des Gebäudes die Tür von innen öffnet und ich ihn frage, ob hier ein Eric Cooper wohnt, zuckt er nur mit den Schultern und zeigt mit einem wulstigen Finger auf die Klingelschilder zu meiner Linken.
"Wenn er da nicht draufsteht, dann wohnt er hier nicht."

Mit diesen Worten lässt er mich stehen und zieht sich eine Baseballcap über den Kopf. Die Tür fällt vor meiner Nase zu.
Meine Zunge fährt unruhig durch meinen Mund, während ich überlege, was ich jetzt tun soll. Ich stehe völlig planlos vor verschlossenen Türen.

Als ich wieder in Ophelias Mini einsteige, empfinde ich merkwürdigerweise keine Panik. Ich fühle gar nichts. Aber ich habe ein neues Ziel vor Augen. Wenn er nicht hier ist, dann kann er nur Zuhause sein.
Ich starte den Motor und fädle mich in den Verkehr ein, ohne über meine Schulter zu blicken.

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Hey Freunde,

harte, ungewisse Zeiten. Ich habe gerade die Reden-Runde im Bundestag (ich weiß wirklich nicht wie der "Fachbegriff" dafür lautet) geschaut. Ich muss sagen, dass ich vielen Parteien mit ihren Ansichten recht geben muss. Aber das meiste ist ja nur Gelaber & am Ende passiert nicht viel.

Wenigstens stehen wir alle mal halbwegs geschlossen da. Ein beruhigender Punkt. 

Eine Freundin von mir ist gerade auf der Friedensdemo in Berlin. Ich wäre auch unglaublich gerne da! Die in Hannover habe ich gestern leider verpasst, aber Berlin ist sowieso noch mal eine andere Nummer.

Okay, ich werde jetzt mit meiner Mom eine Runde spazieren gehen. Die Sonne scheint und solange wir noch nicht tot sind, sollten wir das nutzen.

Wie ist eure Meinung zu Wehrpflicht?

All my Love,
Lisa xoxo

almost Love [boyxboy]✔Where stories live. Discover now